In Büchern und Videos sind Dachböden immer ein malerischer Platz, mit einem Fahrrad, ein paar großen Hüten mit Federbüschen, einem alten hölzernen Schaukelpferd und natürlich einem Überseekoffer, in dem der letzte Wille oder die Leiche verstaut werden kann.
Auf Mrs. Bittners Dachboden lagerte kein Koffer und kein Schaukelpferd, zumindest so weit ich sah.
»Mein Gott!« Mrs. Bittner schaute sich bestürzt um. »Ich befürchte, das sieht mehr nach Das Sittaford-Rätsel aus als nach Der entwendete Brief.«
»Agatha Christie«, erklärte Verity. »Niemand bemerkte den Beweis, weil er in einem Schränkchen mit Golfsachen, Tennisschlägern und einer Menge Krimskrams versteckt war.«
Einer Menge Krimskrams war milde ausgedrückt. Der Raum war bis unter die niedrigen Dachsparren vollgestopft mit Kartons, ineinandergestapelten Gartenstühlen, alten Kleidern, die an einem aus der Wand ragenden Rohr hingen, Puzzles vom Grand Canyon und der Marskolonie, einem Crocketset, Sqashschlägern, verstaubtem Weihnachtsschmuck, Büchern und einer Sammlung von mit Bettlaken verhüllten Möbeln, alles in waghalsiger Manier aufeinandergetürmt.
»Können Sie mir diesen Stuhl reichen?« Mrs. Bittner wies auf eine Scheußlichkeit aus Piastiform aus dem zwanzigsten Jahrhundert, die auf einer Waschmaschine thronte. »Ich kann nicht lange stehen.«
Ich holte den Stuhl herunter, befreite ihn von einer Mauerkelle und einigen Kleiderbügeln, die sich in seinen Aluminiumbeinen verhakt hatten, und staubte ihn für sie ab.
Sie setzte sich vorsichtig. »Danke«, sagte sie. »Geben Sie mir bitte diese Blechschachtel.«
Wie geheißen gab ich sie ihr, und sie stellte sie neben sich auf den Boden. »Und die großen Pappkartons dort — schieben Sie sie zur Seite. Die Koffer auch.«
Das tat ich, und Mrs. Bittner erhob sich und ging durch den schmalen Gang, den ich durch das Verschieben der Gegenstände geschaffen hatte, ins Dunkle.
»Machen Sie eine Lampe an«, befahl sie. »Dort drüben ist eine Steckdose.« Sie wies auf die Wand hinter einer mächtigen Apidistrapflanze aus Plastik.
Ich griff nach der nächstbesten Lampe, einem massiven Ding mit einem riesigen plissierten Schirm und einem wuchtigen, ziselierten, schmiedeeisernen Fuß.
»Nicht die«, sagte Mrs. Bittner rasch. »Die rosafarbene.« Sie zeigte auf eine große Lampe mit Fransenschirm aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich steckte den Stecker in die Dose und machte die Lampe an, aber viel Erfolg hatte es nicht. Sie beleuchte ihre Fransen und Veritys Waterhouse-Gesicht, aber sonst kaum etwas.
Mrs. Bittner dachte das anscheinend auch. Sie ging zu der schmiedeeisernen Lampe. »Der maskierte Mörder«, murmelte sie. Verity beugte sich vor. »Der Beweis, der als etwas anderes maskiert ist«, flüsterte sie.
»Genau.« sagte Mrs. Bittner und hob den plissierten Schirm hoch, der des Bischofs Vogeltränke verdeckte.
Zu schade, daß Lady Schrapnell nicht hier war. Und Carruthers. Die ganze Zeit, die wir damit zugebracht hatten, in den Trümmern nach des Bischofs Vogeltränke zu suchen, und hier war sie. Fortgeschafft worden, um sie zu retten, wie Carruthers vermutet hatte, und tatsächlich war nicht eine einzige Schramme an ihr. Das Rote Meer teilte sich immer noch; Frühling, Sommer, Herbst und Winter hielten immer noch ihre jeweiligen Girlanden aus Apfelblüten, Rosen, Weizen und Holunder hoch; das Haupt Johannes’ des Täufers lag immer noch auf dem Tablett und starrte vorwurfsvoll auf König Artur und die Ritter der Tafelrunde. Griffons, Mohnblumen, Ananas, Puffins, die Schlacht von Prestopans, alles noch intakt und nicht einmal staubig.
»Lady Schrapnell wird überglücklich sein«, sagte Verity. Sie zwängte sich in den engen Gang und ließ sich auf die Knie nieder, um besser zu sehen. »Gütiger Himmel! Diese Seite muß zur Wand gezeigt haben. Was soll das sein? Fächer?«
»Venusmuscheln. Die Namen bedeutender Seeschlachten sind in sie eingraviert«, erklärte ich. »Lepanto, Trafalgar, die Schlacht der Schwäne.«
»Schwer vorstellbar, daß dieses Ding den Lauf der Geschichte ändern wollte«, sagte Mrs. Bittner und betrachtete Shadrach, Meshach und Abednego, die drei Jünglinge im Feuerofen. »Sie ist mit der Zeit nicht schöner geworden, stimmt’s? Das Albert Memorial auch nicht.«
»Mit dem es eine Menge gemeinsam hat.« Verity berührte einen schmiedeeisernen Elefanten.
»Ich weiß nicht«, sagte ich und legte den Kopf schief, um die Vase seitlich zu betrachten. »Langsam gewöhne ich mich irgendwie dran. Ich find’s schon fast hübsch.«
»Zeitkrankheit«, sagte Verity zu Mrs. Bittner. »Ned, der Elefant trägt einen Howdah voller Ananas und Bananen zu einem Adler mit einer Fischgabel.«
»Das ist keine Fischgabel«, erwiderte ich. »Das ist ein Flammenschwert. Und es ist kein Adler, sondern ein Erzengel, der den Eingang des Paradieses bewacht. Oder den Zoo.«
»Es ist wirklich scheußlich«, sagte Mrs. Bittner entschieden. »Ich weiß nicht, wo damals meine Gedanken waren. Wahrscheinlich auch die Zeitkrankheit, nach den vielen Sprüngen. Außerdem war überall Rauch.«
Verity drehte sich um und starrte erst Mrs. Bittner an und dann mich. »Wie oft sind Sie gesprungen?« fragte sie.
»Viermal«, entgegnete Mrs. Bittner. »Nein, fünf. Der erste zählte nicht. Da kam ich zu spät durch. Das ganze Kirchenschiff war voller Rauch und ich hätte fast eine Rauchvergiftung bekommen. Ich habe bis heute Probleme mit meiner Lunge.«
Verity starrte sie immer noch ungläubig an. »Sie sprangen fünfmal zur Kathedrale?«
Mrs. Bittner nickte. »Ich hatte nur wenig Zeit zwischen dem Moment, wo die Brandwache das Kirchenschiff verließ und dem Augenblick, wo das Feuer außer Kontrolle geriet, und durch den Schlupfverlust kam ich auch noch immer etwas zu spät durch. Mehr als fünfmal schaffte ich es nicht.«
Verity schaute mich ungläubig an.
»Geben Sie mir die Schachtel«, bat Mrs. Bittner. »Das zweite Mal wäre ich fast geschnappt worden.«
»Das war ich«, sagte ich. »Ich sah Sie zum Allerheiligsten laufen.«
»Sie waren das?« Sie lachte, die Hand auf der Brust. »Ich dachte, es wäre Probst Howard, und ich würde wegen Plündern verhaftet.«
Verity gab ihr die Schachtel, und Mrs. Bittner öffnete sie und suchte etwas zwischen den Lagen Papier. »Des Bischofs Vogeltränke nahm ich erst beim letzten Sprung mit. Ich wollte die Smithsche Kapelle erreichen, aber sie stand bereits in Flammen. Deshalb rannte ich zur Dyerschen Kapelle und nahm die bronzenen Kerzenleuchter vom Altar, aber sie waren zu heiß. Ich ließ einen fallen, und er rollte unter eine der Bänke.«
Wo ich ihn fand, dachte ich und annahm, er sei vom Luftdruck dorthin geschleudert worden.
»Ich suchte ihn«, fuhr Mrs. Bittner fort und durchwühlte nüchtern das Papier, »doch die Dachsparren stürzten bereits herunter, also rannte ich ins Kirchenschiff zurück, wo ich sah, daß die Orgel bereits Feuer gefangen hatte und alles andere auch — die Holzschnitzereien, der hohe Chor und das Allerheiligste, alles in dieser schönen, schönen Kathedrale, und daß ich nichts davon retten konnte. Ich überlegte nicht, sondern griff nach dem nächstbesten, das ich in die Finger bekam, und rannte zum Netz, Wasser verspritzend und Chrysanthemen in alle Richtungen verstreuend.« Sie nahm eine Lage Seidenpapier heraus und wickelte einen bronzenen Kerzenleuchter aus. »Deshalb habe ich nur einen davon.«
Dunworthy hatte gesagt, daß sie absolut furchtlos sei, und das hatte sie auch sein müssen, um so zwischen herunterbrechenden Balken, fallenden Brandbomben und einem Netz hin- und herzuschießen, das sich Gott-weiß-wann öffnete, ohne Gewißheit, daß es das überhaupt tun würde, ohne Gewißheit, daß das Dach nicht einstürzen würde. Ich schaute Mrs. Bittner ehrfurchtsvoll an.