»Girdlersche Kapelle«, sagte sie, Gladiolen in die Vase vor der Kanzel rammend. »Chrysanthemen! Wo um alles in der Welt soll ich gelbe Chrysanthemen herbekommen!«
Ich wollte den Gang im Querschiff hinuntereilen, aber er war verstopft mit Chorknaben und Menschen in akademischer Robe. »Alle herhören!« rief ein junger Mann, der Reverend Arbitage aufs Haar ähnelte. »Hier ist die Prozessionsordnung. Zuerst die Weihrauchträger, dann der Chor. Danach die Angehörigen der Historischen Fakultät, College nach College. Mr. Ransome, wo ist Ihr Talar? Volle akademische Insignia, so lautet die Anweisung.«
Ich schob mich durch eine der Bänke seitwärts in den Nordgang zum Kirchenschiff. Da entdeckte ich Dunworthy.
Er stand am Durchgang zur Girdlerschen Kapelle, an einen der Bogenpfeiler gelehnt, offenbar um sich zu stützen, und hielt ein Blatt Papier, das, während ich zusah, aus seiner Hand fiel und zu Boden flatterte.
»Was ist?« Ich eilte hin. »Geht es Ihnen nicht gut? Kommen Sie.« Ich legte den Arm um ihn und führte ihn zur nächsten Bank. »Setzen Sie sich.« Ich hob das Blatt Papier auf und setzte mich neben ihn. »Was ist passiert?«
Er lächelte mich an, ziemlich blaß, wie mir schien. »Ich habe gerade das Kinderkreuz gesehen«, sagte er, dahin deutend, wo es in der Girdlerschen Kapelle hing. »Und begriffen, was es bedeutet. Wir waren so mit der Inkonsequenz, mit Finchs Auftrag und damit, Carruthers rauszuholen, beschäftigt, daß ich bis eben nicht gemerkt habe, was das alles bedeutet.«
Er griff nach dem Blatt, das ich aufgehoben hatte. »Ich habe eine Liste angefertigt«, sagte er.
Ich schaute auf das Blatt in meiner Hand. »Die Bibliothek von Lissabon«, stand da. »Die Öffentliche Bibliothek von Los Angeles. Die Französische Revolution von Carlyle. Die Bücherei von Alexandria.«
Ich starrte Dunworthy an.
»Alles verbrannt«, sagte er. »Ein Dienstmädchen verbrannte versehentlich das einzige Exemplar von Carlyles Buch.« Er nahm das Papier. »Das ist nur, was mir jetzt spontan eingefallen ist.« Er faltete die Liste. »Die St. Paul’s Kathedrale wurde durch eine Luftmine zerstört. Und alles, was darin war — Das Licht der Welt, Nelsons Grab, die Statue von John Donne. Wenn ich mir vorstelle, daß es…«
Der Kurator kam herbei. »Mr. Dunworthy«, sagte er. »Sie müssen sich jetzt aufstellen.«
»Haben Sie Lady Schrapnell gesehen?« fragte ich ihn.
»Vor ein paar Minuten war sie noch in der Draperschen Kapelle«, sagte er. »Mr. Dunworthy, sind Sie bereit?«
»Ja«, sagte Dunworthy. Er nahm sein Barett ab, steckte die Liste hinein und setzte es wieder auf. »Ich bin bereit für alles.«
Ich eilte das Kirchenschiff entlang zur Draperschen Kapelle. Im Querschiff wimmelte es von Dekanen, und Miss Warder versuchte, die Chorknaben aufzustellen. »Nein, nein, nein!« schrie sie. »Nicht hinsetzen! Ihr zerknittert die Gewänder. Ich habe sie gerade gepreßt. Stellt euch auf! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«
Ich rannte an ihr vorbei hinüber zur Draperschen Kapelle. Dort sah ich Verity, die vor dem Buntglasfenster stand, ihren wunderschönen Kopf über ein Blatt Papier gebeugt.
»Was ist das?« Ich ging zu ihr. »Die Gottesdienstordnung?«
»Nein. Ein Brief. Erinnerst du dich noch, nachdem wir Mauds Brief fanden, schlug ich doch der Gerichtsmedizinerin vor, nach weiteren Briefen zu forschen, die Tossie vielleicht an andere Personen geschrieben haben könnte.« Sie hielt das Papier hoch. »Hier ist einer.«
»Du machst Witze«, sagte ich. »Und ich nehme an, Baines Name steht darin.«
»Nein, Tossie nennt ihn immer noch ihren ›geliebten Ehemann‹. Und sie unterschreibt mit ›Toots‹. Aber es steht etwas anderes Interessantes darin.« Sie setzte sich auf eine der geschnitzten Bänke. »Hör zu — ›Mein lieber Terence…‹«
»Terence? Warum in alles der Welt schreibt sie an Terence?«
»Er schrieb ihr«, erklärte Verity. »Der Brief ist verlorengegangen. Dies ist Tossies Antwort.«
»Terence schrieb ihr?«
»Ja. Hör zu — ›Mein lieber Terence. Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken, wie glücklich mich Dein Brief vom dritten gemacht hat‹. ›Glücklich‹ ist unterstrichen. ›Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder etwas von meiner geliebten Prinzessin Arjumand zu hören!!‹ ›Hören‹ ist…«
»Unterstrichen«, sagte ich.
»Mit zwei Ausrufungszeichen versehen«, sagte Verity. Sie las weiter. »›Wir waren bereits weit draußen auf See, als ich entdeckte, daß sie verschwunden war. Mein geliebter Ehemann versuchte alles, was in seiner Macht stand, um den Kapitän zur Rückkehr zum Hafen, zu bewegen, aber dieser verweigerte grausamerweise dieses Ansinnen, und ich dachte, ich würde meine geliebte Miezmiez in diesem Leben niemals wieder sehen noch etwas von ihrem SCHICKSAL erfahren.‹«
»So gut wie alles ist unterstrichen«, sagte Verity, »und Schicksal ist großgeschrieben.« Sie las weiter. »›Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freute, als ich Deinen Brief bekam. Ich hatte solche Angst, daß Juju in der schäumenden See ertrunken wäre, und nun höre ich, daß sie nicht nur am Leben ist, sondern auch noch bei dir!‹«
»Häh?«
»Von jetzt ab ist alles unterstrichen«, sagte Verity. »›Wenn ich daran denke, daß mein zarter Liebling die ganze Strecke von Plymouth nach Kent zurückgelegt hat, wo doch Muchings End viel näher gewesen wäre! Aber vielleicht ist es das Beste so. Mama hat geschrieben, daß Papa kürzlich einen neuen goldenen schleierschwänzigen Ryunkin erstanden hat. Ich weiß, daß Juju bei Dir ein gutes Zuhause gefunden hat. Vielen Dank für Dein freundliches Angebot, Prinzessin Arjumand in der Obhut von Dawson zu mir bringen zu lassen, aber mein geliebter Ehemann und ich sind der Meinung, daß sie in Anbetracht ihrer Abneigung gegen Wasser besser bei Dir bliebe. Ich weiß, daß Du und Deine Braut Maud sie genauso lieben und verwöhnen werden, wie ich es tat. Mama hat mir von Deiner Heirat geschrieben. Obwohl es mir ein bißchen überstürztvorkommt, und ich ehrlich hoffe, daß es nicht nur eine Gegenreaktion war, bin ich froher als ich sagen kann, daß Du in der Lage warst, mich zu rasch zu vergessen, und es ist mein glühendster Wunsch, daß Ihr beide genauso glücklich werdet wie mein geliebter Ehemann und ich es sind! Küsse Prinzessin Arjumand von mir, kraule ihr süßes, weiches Fell und sage ihr, daß ihre Mami immer an ihre liebe Putziputzi denken tut. In Dankbarkeit, Toots Callahan.‹«
»Armer Cyril«, sagte ich.
»Unsinn. Die beiden sind wie geschaffen füreinander.«
»Und wir beide auch.«
Sie senkte den Kopf.
»Nun, wie steht’s, Harriet?« fragte ich. »Wir beiden geben ein verflucht gutes Detektivteam ab, oder wie? Wie wär’s, wenn wir die Partnerschaft auf Dauer schließen würden?«
»Nein!« schrie Miss Warder. »Ich sagte doch, ihr sollt euch nicht setzen! Seht euch diese Falten an! Diese Chorgewänder sind aus Leinen!«
»Also, Watson?« sagte ich zu Verity. »Was meinst du dazu?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie unglücklich. »Und wenn es nun nur die Zeitkrankheit ist? Sieh dir Carruthers an. Er glaubt, er liebt Miss Warder…«
»Das ist absolut unmöglich!« fuhr Miss Warder einen kleinen Jungen an. »Daran hättest du denken können, bevor du das Chorgewand angezogen hast!«