»Sieh sie dir doch an!« Verity blickte mich ernst an. »Stell dir vor, der ganze Rummel ist vorbei, du bekommst deinen Schlaf, erholst dich von der Zeitkrankheit und stellst fest, daß du einen schrecklichen Fehler begangen hast?«
»Blödsinn.« Ich schob sie an die Wand zurück. »Mumpitz, Papperlapp und Humbug, sappermentnochmal! Ganz zu schweigen vonFisematentchen! Als ich dich das erste Mal sah, damals, als du deinen Ärmel auf Dunworthys Teppich ausgewrungen hast, war es, als würde das Fräulein von Shalott lebendig — fliegende Netze, zerspringende Spiegel, zerrissene Fäden und überall Glas. Das weißt du ganz genau.«
Ich stützte meine Hände an die Wand über ihrem Kopf und beugte mich zu ihr. »Außerdem ist es deine patriotische Pflicht.«
»Meine patriotische Pflicht?«
»Ja. Du weißt doch, wir sind Teil einer Selbstkorrektur. Wenn wir nicht heiraten, wird etwas Schreckliches passieren — die Nazis werden rauskriegen, daß wir Ultra besitzen, oder Lady Schrapnell wird ihr Geld Cambridge zukommen lassen oder das Kontinuum wird zusammenbrechen.«
»Hier stecken Sie«, sagte Finch. Er kam mit einem Handy und einer großen Pappschachtel auf uns zugeeilt. »Ich habe Sie schon überall gesucht. Mr. Dunworthy sagte, Sie und Miss Kindle sollten eines haben, aber ich wußte nicht, ob das nun eines oder zwei Exemplare bedeutet.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber nach einer Woche Aufenthalt im victorianischen Zeitalter störte mich diese Tatsache nicht mehr. »Eins«, sagte ich.
»Jawohl, Sir. Eins«, sagte er in das Handy, bevor er es auf einer Grabplatte ablegte. »Mr. Dunworthy meinte, das Sie, angesichts Ihrer wertvollen Mithilfe, die erste Wahl haben sollten. Möchten Sie eine besondere Farbe?«
»Ja«, sagte Verity. »Schwarz. Mit weißen Pfoten.«
»Wie?« fragte ich.
»Ich sagte dir doch, er brachte unwichtige Objekte mit«, erklärte Verity.
»Ich würde sie keinesfalls so bezeichnen.« Finch holte ein Kätzchen aus dem Karton. Es sah haargenau aus wie Prinzessin Arjumand, bis hin zu den weißen Beinkleidern an den schwarzen Hinterpfoten, nur daß es viel kleiner war.
»Wo? Wie?« fragte ich. »Katzen sind eine ausgestorbene Spezies.«
»Sicher, Sir.« Finch reichte Verity das Kätzchen. »Im victorianischen Zeitalter aber gab es eine Überzahl von ihnen, so daß die Bauern die Würfe regelmäßig ersäuften, um die Anzahl der Katzen gering zu halten.«
»Und als ich Prinzessin Arjumand mit durchbrachte«, fuhr Verity fort und streichelte das Kätzchen in ihrer Hand, »beschlossen T. J. und Mr. Dunworthy, zu prüfen, ob die Kätzchen, wenn sie erst mal in einem Korb verschlossen und im Teich ersäuft worden waren, unwichtige Objekte würden.«
»Deshalb also sind Sie überall in der Gegend herumgewandert, Finch! Sie haben nach trächtigen Katzen Ausschau gehalten.« Ich schaute in die Schachtel. Es lagen zwei Dutzend Kätzchen darin, die meisten hatten die Augen noch geschlossen. »Ist da auch der Wurf von Mrs. Marmelade dabei?«
»Ja, Sir«, sagte Finch und zeigte auf einige der kleinen Fellkugeln. »Diese drei Tigerchen und das kalikofarbene. Sie sind natürlich alle noch zu klein, um entwöhnt zu werden, aber Mr. Dunworthy meint, Sie könnten ihres in fünf Wochen haben. Die von Prinzessin Arjumand sind etwas älter, da man sie erst drei Wochen nach der Geburt entdeckt hat.«
Er nahm Verity das Kätzchen ab. »Sie wird Ihnen natürlich nicht wirklich gehören«, sagte er. »Sie müssen sie ins Labor bringen, zum Klonen und Züchten. Wir haben noch nicht genug für einen gesunden Genpool, aber wir haben bereits Kontakt mit der Sorbonne, Caltech und der Universität von Thailand aufgenommen, und ich selbst werde ins victorianische England zurückkehren, um noch mehr Exemplare zu holen.«
»Können wir es besuchen?« fragte Verity.
»Natürlich. Und Sie werden lernen müssen, es zu füttern und zu pflegen. Ich würde Milch vorschlagen und…«
»… kugeläugige perlmuttfarbene Ryunkins«, sagte ich. Finchs Handy fiepte. Er betrachtete es und nahm die Schachtel. »Der Erzbischof ist gekommen, und der Ordner am Westportal sagt, es fängt zu regnen an. Wir müssen das Publikum hereinlassen. Ich muß Lady Schrapnell finden. Haben Sie sie gesehen?«
Wir schüttelten beide den Kopf.
»Am besten, ich mache mich mal auf die Suche nach ihr.« Mit der Schachtel unterm Arm eilte er davon.
»Und drittens«, nahm ich den früheren Gesprächsfaden wieder auf, »weiß ich seit jenem Nachmittag im Boot, daß du genauso empfindest wie ich und daß du darauf wartest, daß ich dir in Lateinisch…«
»Ach, da stecken Sie, Ned«, sagte T. J. Er schleppte einen kleinen Monitor mit sich und ein schnurloses Computersystem. »Ich muß Ihnen was sagen.«
»Die Einweihung fängt gleich an«, sagte ich. »Hat das nicht Zeit bis später?«
»Nein.«
»Ist schon gut«, sagte Verity. »Ich komm gleich wieder«, und eilte aus der Kapelle.
»Was ist denn?« fragte ich.
»Wahrscheinlich bedeutet es überhaupt nichts«, meinte T. J. »Vielleicht so was wie ein mathematischer Fehler. Ein Ausrutscher im System.«
»Was ist?« wiederholte ich.
»Also gut — erinnern Sie sich daran, wie Sie mich gebeten haben, den Fokus auf die Inkonsequenz in Coventry 1940 zu richten und ich Ihnen sagte, daß das Bild beinahe dem von der Waterloo-Suppenkessel- Simulation glich?«
»Mhm.« Ich horchte auf.
»Also, die Betonung liegt auf dem Wort beinahe.« Wieder zauberte er eines seiner verschwommenen grauen Bilder auf den Schirm. »Es deckt sich bei dem Schlupfverlust an der Peripherie des Geschehens und in den Hauptgebieten, ebenso hier«, er zeigte auf Flächen, die alle gleichermaßen grau und verschwommen aussahen. »Aber nicht bei dem Schlupfverlust direkt um den Ort des Geschehens herum. Obwohl es dort einen Schlupfverlust gab, wo Mrs. Bittner die Vogeltränke durchgebracht hat, war dieser nicht ansteigend.«
»Vielleicht gab es nicht genügend Raum für einen Anstieg«, sagte ich. »Lizzie hatte nur einen sehr kurzen Zeitraum zur Verfügung — den zwischen der Zerstörung der Gegenstände und dem Zeitpunkt, wo man sie zuletzt gesehen hatte. Das sind nur wenige Minuten. Erhöhter Schlupfverlust hätte sie vielleicht mitten ins Feuer gebracht.«
»Ja, aber selbst wenn man das berücksichtigt, gibt es immer noch das Problem des direkten Umkreises«, sagte T. J. und wies auf nichts Bestimmbares. »So wie hier.« Er gab etwas ein. »Ich habe den Fokus nach vorn gerichtet.« Ein undefinierbares graues Bild erschien.
»Nach vorn?«
»Ja. Natürlich hatte ich nicht die Zeit, genügend Daten zu sammeln, um den genauen Ort im Raumzeitgefüge zu bestimmen, wie Sie das konnten, also mußte ich einfach annehmen, daß der Schlupfverlust im Umkreis eigentlich der periphere ist, und von dort aus einen neuen Fokuseinstellen.«
Ein weiteres Bild erschien. »Das ist das Modell von Waterloo. Ich lege es jetzt über das Bild mit dem neuen Fokus. Sehen Sie, wie es paßt?«
Ich sah es. »Auf welche Zeit richtet sich der neue Fokus?« fragte ich. »Auf welches Jahr?«
»2678.«
2678. Über sechshundert Jahre in der Zukunft.
»Fünfzehnter Juni 2678«, sagte er. »Wie ich schon sagte, es hat vielleicht nichts zu bedeuten. Ein Fehler in der Berechnung.«
»Und wenn nicht?«
»Dann war es nicht Mrs. Bittner, die die Inkonsequenz erzeugte.«
»Aber dann…«
»… ist das Ganze nur Teil einer größeren Selbstkorrektur.«
»Der Selbstkorrektur von was?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Von etwas, das noch nicht geschehen ist. Etwas, das…«