»… 2978 passieren wird. Auf welchen Ort richtet sich der neue Fokus?« fragte ich. Lag der etwa genauso weit entfernt wie das Datum? Addis Abeba? Der Mars? Die Kleine Magellanische Wolke?
»Oxford«, sagte T. J. »Die Kathedrale von Coventry.«
Die Kathedrale von Coventry. Am fünfzehnten Juni. Verity hatte recht behalten. Das Schicksal hatte uns dazu bestimmt, des Bischofs Vogeltränke zu finden und in die Kathedrale zurückzubringen. Und alles andere, der Verkauf der neuen Kathedrale und Lady Schrapnells Idee, die alte wiederaufzubauen, unsere Entdeckung, daß unwichtige Objekte mit durchs Netz gebracht werden konnten, all das war Teil einer riesigen Selbstkorrektur, eines Großen…
»Ich muß das alles noch mal gegenrechnen und ein paar Testläufe durchführen«, sagte T. J. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wahrscheinlich liegt der Fehler in der Waterloo-Simulation. Sie ist ja nur ein ungenaues Modell.«
Er tippte auf die Tasten, das Grau verschwand, und er faltete den Schirm zusammen.
»T. J.«, sagte ich. »Was entschied Ihrer Meinung nach die Schlacht von Waterloo? Napoleons Handschrift oder seine Hämorrhoiden?«
»Keines von beiden«, erwiderte er. »Und sicher auch nichts von dem, was wir simuliert haben — Gneisenaus Rückzug nach Wavre oder der Bote, der sich verlaufen hatte oder das Feuer in La Sainte Haye.«
»Was meinen Sie?« Ich ließ nicht locker.
»Eine Katze«, sagte er.
»Eine Katze?«
»Oder ein Karren oder eine Ratte oder…«
»… die Vorsitzende eines Kirchenausschusses«, vollendete ich.
»Genau«, sagte T. J. »Etwas so Unwichtiges, daß niemand es bemerkte. Das ist das Problem mit den Modellen — sie enthalten nur das, was die Menschen für wichtig halten, und Waterloo war ein chaotisches System. Alles war wichtig.«
»Und wir sind alle kleine Kleppermans«, sagte ich, »und finden uns plötzlich auf Positionen wieder, die außerordentlich wichtig sind.«
»So ist’s.« Er grinste breit. »Und wir wissen auch alle, wie’s mit Marineleutnant Klepperman ausgegangen ist. Und wie’s mit mir ausgehen wird, wenn ich nicht umgehend in der Sakristei erscheine. Lady Schrapnell wünscht, daß ich die Kerzen in den Kapellen entzünde.« Hastig schnappte er Monitor und Computer. »Ich fang am besten mal damit an. Sieht so aus, als ginge es gleich los.«
So war es. Die Chorknaben und die Dekane hatten sich mehr oder weniger aufgereiht, die Frau in der grünen Schürze sammelte Scheren, Buketts und Blumenpapier ein, der Junge war unter der Chorbank hervorgekrochen. »Klemmt die Trompetenpfeife immer noch?« rief jemand vom hohen Chor herunter und der Organist rief zurück: »Nein.« Carruthers und Miss Warder standen am Südportal, eng umschlungen, die Arme vollgepackt mit Gottesdienstordnungen. Ich ging ins Hauptschiff, um Verity zu finden.
»Wo haben Sie gesteckt?« dröhnte Lady Schrapnell mir von oben herab ins Ohr. »Ich habe Sie überall gesucht.« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Und? Ich dachte, Sie hätten des Bischofs Vogeltränke gefunden? Wo ist sie? Oder haben Sie sie etwa wieder verloren?«
»Nein«, entgegnete ich. »Sie ist dort, wo sie hingehört. Vor der Chorschranke der Smithschen Kapelle.«
»Das muß ich sehen.« Sie machte sich auf den Weg ins Kirchenschiff hinunter.
Ein Trompetenton ertönte, und der Organist stimmte »Groß und gewaltig ist der Herr«, an. Die Chorknaben öffneten ihre Gesangbücher. Carruthers und Miss Warder lösten sich voneinander und nahmen ihre Position ein.
»Dafür ist keine Zeit mehr«, sagte ich zu Lady Schrapnell. »Die Einweihung beginnt.«
»Unsinn.« Sie drängte sich zwischen den Chorknaben hindurch. »Es ist Zeit genug. Die Sonne ist noch nicht rausgekommen.«
Sie zwängte sich durch die Reihen der Dekane, die sich teilten wie weiland das Rote Meer, und machte sich auf den Weg zur Smithschen Kapelle. Ich folgte ihr und hoffte nur, daß des Bischofs Vogeltränke sich nicht plötzlich wieder in Luft aufgelöst hatte. Hatte sie auch nicht. Sie stand immer noch am selben Platz, auf ihrem schmiedeeisernen Ständer. Die Frau mit der grünen Schürze hatte sie mit einem liebevoll arrangierten Strauß weißer Osterglocken bestückt.
»Da ist sie.« Ich zeigte stolz darauf. »Nach unsagbaren Strapazen und Prüfungen. Des Bischofs Vogeltränke. Was halten Sie davon?«
»Mein Gott«, sagte sie und preßte die Hand aufs Herz. »Sie ist wirklich scheußlich, finden Sie nicht auch?«
»Was?«
»Meiner Urur-Urgroßmutter mag das ja gefallen haben, aber meine Güte! Was soll das darstellen?« Sie zeigte auf den Fuß der Vase. »Einen Dinosaurier oder was?«
»Die Unterzeichnung der Magna Charta«, sagte ich.
»Es tut mir beinahe leid, daß ich Ihnen so viel Unannehmlichkeiten wegen dieses Dings gemacht habe«, sagte sie mit nachdenklichem Blick auf die Vogeltränke. »Wahrscheinlich unzerstörbar, oder?« In ihrer Stimme schwang eine leise Hoffnung.
»So ist es«, sagte ich.
Sie seufzte. »Nun, ich denke, wir müssen sie um der Authentizität der Kathedrale willen behalten. Ich hoffe nur, die anderen Kirchen besitzen nichts ähnlich Scheußliches.«
»Andere Kirchen?«
»Haben Sie es noch nicht gehört?« sagte Lady Schrapnell. »Jetzt, wo wir imstande sind, unwichtige Objekte durchs Netz zu bringen, habe ich eine ganze Reihe Projekte im Kopf. Das Erdbeben von San Francisco, die Ateliers von MGM, Rom, bevor Julius Cäsar es…«
»Nero«, verbesserte ich.
»Ach ja, natürlich. Sie werden die Fiedel holen, auf der Nero spielte.«
»Aber die ist nicht im Feuer verbrannt«, sagte ich. »Nur Objekte, die auf ihre Grundbestandteile reduziert worden sind, können…«
Lady Schrapnell unterbrach mich mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Wir beginnen mit den vierzehn Kirchen von Christopher Wren, die während des Blitzkriegs zerstört wurden und dann…«
»Wir?« fragte ich mit schwacher Stimme.
»Natürlich. Ich habe besonders Sie dafür angefordert.« Sie hielt inne und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. »Was sollen die Osterglocken? Gelbe Chrysanthemen sollten es sein.«
»Osterglocken passen doch ausgezeichnet«, sagte ich. »Schließlich ist die Kathedrale mitsamt ihren Schätzen von den Toten erstanden. Der Symbolgehalt…«
Lady Schrapnell interessierte der Symbolgehalt nicht. »In der Gottesdienstordnung steht gelbe Chrysanthemen«, sagte sie. »Gott steckt im Detail.«
Sie stürmte davon, um die wehrlose Frau mit der grünen Schürze zu suchen.
Ich blieb stehen und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. Fünfzehn Christopher Wren-Kirchen. Und die Ateliers von MGM. Ganz zu schweigen, wenn ihr wirklich aufging, was das alles bedeutete.
Verity kam herbei. »Stimmt was nicht, Ned?« fragte sie.
»Ich bin dazu verdammt, den Rest meines Lebens für Lady Schrapnell zu arbeiten und Wohltätigkeitsbasare zu besuchen«, sagte ich.
»Quatsch! Du bist dazu verdammt, dein Leben mit mir zu verbringen.« Sie gab mir das Kätzchen. »Und mit Federhalterwischer.«
Das Kätzchen wog so gut wie nichts. »Wischerle«, sagte ich, und es schaute mit graugrünen Augen zu mir hoch.
»Mrrh« machte es und fing zu schnurren an, ganz leise und zart. Ein Schnürrchen sozusagen.
»Wo hast du das her?« fragte ich Verity.
»Geklaut. Sieh mich nicht so an. Ich will es ja zurückgeben. Und Finch wird es im Augenblick sowieso nicht vermissen.«
»Ich liebe dich«, sagte ich kopfschüttelnd. »Wenn ich dazu verdammt bin, mein Leben mit dir zu verbringen, heißt das, daß du dich entschieden hast, meine Frau zu werden?«