In Filmen liegt immer eine Zeitung mit der hilfreichen Schlagzeile »Angriff auf Pearl Harbour!« oder »Ausnahmezustand in Mafeking!«[8] auf der Erde, und in einem Schaufenster zeigt eine Uhr netterweise die genaue Zeit an.
Ich schaute auf meine Uhr. Sie war nicht da. Ich blinzelte auf mein Handgelenk und versuchte mich zu erinnern, ob Miss Warder sie abgenommen hatte, als sie mir Hemden anprobierte. Mir fiel ein, daß sie etwas in meine Westentasche gestopft hatte. Ich zog es an einer goldenen Kette heraus. Eine Taschenuhr. Natürlich, im neunzehnten Jahrhundert gab es ja keine Armbanduhren.
Zunächst hatte ich Schwierigkeiten, die Taschenuhr zu öffnen, dann die römischen Ziffern zu lesen, aber schließlich schaffte ich beides. Viertel nach X. Exakter Sprung, wenn man die Zeit dazu rechnete, die ich zum Offnen der Uhr gebraucht hatte und die ich bereits auf den Gleisen lag. Wenn ich bloß nicht im falschen Jahr war. Oder am falschen Ort.
Da ich nicht wußte, wo ich hätte landen sollen, wußte ich auch nicht, ob ich am richtigen Ort war, aber räumliche Schlupfverluste sind meistens gering. Ich erhob mich und schaute den Schienenstrang entlang. Die Gleise verschwanden im Norden in dichtem Wald. In der anderen Richtung lichtete sich der Wald, und man sah eine schwarze dicke Rauchwolke. Eine Fabrik? Oder ein Bootshaus?
Gescheiter wäre gewesen, ich hätte mein Gepäck geschultert und wäre losmarschiert, um nachzusehen, aber ich blieb auf den Gleisen stehen und atmete die warme Sommerluft und den süßen Geruch von Klee und frischgemähtem Heu ein.
Ich war einhundertundsechzig Jahre von Luftverschmutzung, Verkehr und des Bischofs Vogeltränke entfernt. Nein, das stimmte nicht. Sie tauchte 1852 in der Kathedrale von Coventry auf.
Welch deprimierender Gedanke. Doch es gab noch keine Kathedrale in Coventry. Die St. Michaelskirche war erst 1908 zum Bischofssitz erklärt worden. Und eine Lady Schrapnell existierte auch noch nicht. Ich war über ein Jahrhundert entfernt von ihren bellenden Befehlen, von bösartigen Hunden und ausgebombten Kathedralen, in einer zivilisierteren Zeit, wo alles gemächlich und sittsam verlief und wo die Frauen melodiös und gesetzt sprachen.
Ich schaute auf die Bäume und auf die Blumen. Butterblümchen wuchsen zwischen den Schwellen und eine winzige weiße Blume, die wie ein Sternchen aussah. Die Krankenschwester hatte gesagt, ich bräuchte Ruhe, und wer hätte diese hier nicht finden können? Ich fühlte mich bereits völlig wiederhergestellt, allein indem ich hier auf den Bahngleisen stand. Keine verschwommene Sicht mehr, keine Luftschutzsirenen.
Ich hatte mich zu früh gefreut. Die Luftschutzsirene setzte wieder ein und hörte dann abrupt auf. Ich schüttelte den Kopf, versuchte, klar zu denken, und atmete ein paar Mal tief durch.
Ich war also noch nicht geheilt, würde es aber bald sein, in dieser klaren, reinen Luft. Ich schaute zu dem wolkenlosen Himmel hoch, zu der schwarzen Rauchwolke hin. Sie schien höher in der Luft zu stehen und auch nähergekommen zu sein. Brannte da etwa ein Bauer Unkraut ab?
Ich sehnte mich danach, ihn zu sehen, wie er sich auf seinen Rechen stützte, unberührt von den Sorgen moderner Zeiten, unbelastet von ihrer Hetze; sehnte mich danach, sein rosenüberwuchertes Häuschen zu sehen, mit dem weißen Jägerzaun, der gemütlichen Küche, den weichen Federbetten, den…
Die Luftschutzsirene gellte wieder kurz und scharf. Wie eine Fabriksirene. Oder ein Zug.
Adrenalin ist eine ungeheuer wirkungsvolle Substanz. Sie bringt den Körper in Sekundenschnelle auf Trab und ist bekannt dafür, daß sie schier übermenschliche Kräfte freisetzt. Und Schnelligkeit.
Ich packte den Rucksack, den Proviantkorb, das Portmanteau, die Reisetasche, den Karton und meinen Hut, der irgendwie herabgefallen war, warf alles den Bahndamm hinunter und mich selbst hinterher, gerade als die schwarze Rauchwolke aus dem Wald hervorkam.
Der geschlossene Weidenkorb, über den Finch so besorgt gewesen war, stand immer noch auf den Gleisen, auf der gegenüberliegenden Seite. Das Adrenalin schoß hinüber, riß ihn hoch und rollte sich den Damm hinunter, während der Zug mit ohrenbetäubendem Geratter vorbeidonnerte.
Offensichtlich war ich doch noch nicht ganz wiederhergestellt. Ich lag eine beträchtliche Zeitspanne am Fuß des Bahndammes, dachte über diese Tatsache nach und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Nach einer Weile setzte ich mich auf. Der Damm war ziemlich hoch, und der Korb und ich eine ziemliche Strecke gerollt, bevor wir von einem Brennesselgestrüpp aufgehalten worden waren. Deshalb war der Blick von hier ganz anders als der vom Bahndamm oben, und ich konnte hinter einem Erlenwäldchen die Ecke eines weißen Holzgebäudes erkennen sowie etwas von einem Gitterwerk. Vielleicht ein Bootshaus…
Ich befreite den Korb und mich, kletterte den Bahndamm wieder hoch und schaute vorsichtig nach beiden Richtungen. Kein Rauch war zu sehen, kein Ton zu hören. Beruhigt setzte ich über die Gleise, suchte auf der anderen Seite des Bahndammes meine Habseligkeiten zusammen, sprang wieder zurück und begab mich zu dem Wäldchen, hinter dem ich das Bootshaus gesehen hatte.
Adrenalin fördert auch die Denkfähigkeit, und verschiedene Dinge wurden mir, während ich dem Bootshaus zumarschierte, erstaunlich klar. Das Wichtigste dabei war die Erkenntnis, daß ich überhaupt keine Ahnung hatte, was ich tun sollte, wenn ich bei dem Häuschen angekommen war.
Dunkel erinnerte ich mich, daß Dunworthy gesagt hatte: »Ich erkläre Ihnen jetzt Ihren Auftrag«, dann kam ein Durcheinander von Stilton-Löffeln, Kragen und Entwarnung, und dann hatte er gesagt, den Rest der zwei Wochen könnte ich machen, was ich wollte. Was hieß, es blieb wohl nicht viel übrig. Und als ich zum Netz ging, hatte Finch gesagt: »Ned, ich verlasse mich auf Sie.«
Und wobei? Es war etwas mit einem Boot und einem Fluß gewesen. Und etwas mit End. Audley End. Nein, das klang falsch. Es hatte mit einem N begonnen. Oder war das die Wassernymphe gewesen? Voller Hoffnung, daß es mir noch einfallen würde, erreichte ich das Bootshaus.
Es war allerdings kein Bootshaus. Es war eine Bahnstation. »Oxford« stand auf einem geschnitzten Holzschild, das über einer grüngestrichenen Bank an der Mauer hing.
Und was sollte ich jetzt tun? In Oxford gab es Bootshäuser und einen Fluß. Aber wenn ich an der Bahnstation gelandet war, erwartete man vielleicht von mir, daß ich den Zug nach Was-auch-immer-End nehmen sollte und von dort aus ein Boot. Ich glaubte mich zu entsinnen, daß Dunworthy etwas von einer Bahnstation gesagt hatte. Oder war das aus dem Ohrstöpsel gekommen?
Die Landung an der Bahnstation konnte natürlich auch mit dem Schlupfverlust zu tun haben, und man hatte vielleicht gedacht, ich käme an der Follybrücke an. Ich erinnerte mich, daß jemand von einem Boot und dem Fluß gesprochen hatte.
Andererseits hatte ich für einen Bootsausflug ziemlich viel Gepäck dabei.
Ich schaute über die Gleise zum Bahnsteig. Auf der entfernten Seite der grünen Bank entdeckte ich eine mit Glas bedeckte Tafel. Der Fahrplan. Ich könnte ihn anschauen und falls Was-auch-immer-End darauf aufgeführt war, wüßte ich, daß ich den Zug nehmen und dorthin fahren sollte, vor allem, wenn dieser ziemlich bald kam.
Der Bahnsteig war leer, zumindest momentan. Er lag hoch, schien aber nicht unerreichbar, und in beiden Richtungen strahlte der Himmel unbefleckt blau. Ich schaute die Schienen entlang und dann auf die Tür zum Wartesaal. Nichts. Ich vergewisserte mich noch ein paar Mal, ob kein Zug kam, nur um sicher zu gehen, und sprintete dann über die Gleise, hievte mein Gepäck über die Bahnsteigkante und kletterte hinterher.