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Mein Kontaktmann, dachte ich hoffnungsvoll. Und zu spät war er dran, und deshalb war er auch vorher nicht hier gewesen, um mich abzuholen. Wie um das zu beweisen, hielt er inne, zog seine Taschenuhr heraus und schnippte sie mit bemerkenswerter Gewandtheit auf. »Ich bin zu spät dran«, sagte er und ließ die Uhr wieder zuschnappen.

Und falls es mein Kontaktmann war, würde er sich als solcher zu erkennen geben, oder erwartete man von mir, daß ich flüsterte: »Psst, Dunworthy hat mich geschickt?« Oder gab es eine Art Code, auf den ich die Antwort wissen mußte, wie: »Das Schleieräffchen segelt um Mitternacht«, worauf ich antworten mußte: »Der Sperling hockt in der Fichte?«

Ich wägte gerade: »Am Dienstag ist Vollmond« gegen das unverblümtere: »Entschuldigung, kommen Sie aus der Zukunft?« zu sagen ab, als der junge Mann zurückkam, mir im Vorbeigehen nicht mehr als einen beiläufigen Blick zuwarf, und dann zum anderen Ende des Bahnsteiges ging, wo er die Gleise entlang blickte. »Hör mal«, sagte er, als er zurückkam, »ist der 10 Uhr 55 aus London schon gekommen?«

»Ja«, sagte ich. »Er fuhr vor fünf Minuten ab.«

»Ahnt ich’s doch«, sagte er, setzte den Strohhut auf seinen Kopf und verschwand im Bahnhofsgebäude.

Einen Moment später war er wieder da. »Hör mal«, sagte er, »hast du zufällig irgendwelche ältlichen Wittfrauen gesehen?«

»Wittfrauen?« Ich fühlte mich zu den Wohltätigkeitsbasaren zurückversetzt.

»Zwei ehrenwerte Witwen, ›ins Dürre geraten, ins welke Laub‹«,[9] sagte er. »Gekrümmt und ausgedörrt vom Alter. ›Ihr seid alt, Vater William‹[10] und so. Sie hätten im Zug aus London sein müssen. Ganz in pechschwarzer Seidenwolle, wie ich annehme.« Er sah mein verständnisloses Gesicht. »Zwei Damen fortgeschrittenen Alters. Ich sollte sie hier treffen. Sie sind sicher nicht hier gewesen und wieder fortgegangen, oder?« Er schaute kurz um sich.

Er mußte die zwei Damen meinen, die gerade gegangen waren, aber er konnte unmöglich Tantchens Bruder sein, und Maud konnte man kaum als von fortgeschrittenem Alter bezeichnen.

»Sie sollen beide ältlich sein?« erkundigte ich mich.

»Antiquiert. Ich mußte schon einmal ihre Gesellschaft genießen, am Michaelistag zu Semesterbeginn. Hast du sie gesehen? Eine wahrscheinlich im Korsett und mit fichu,[11] die andere eine dürre Jungfer mit spitzer Nase, Blaustrumpf von oben bis unten und den Kopf voller sozialer Anliegen. Amelie Bloomer und Betsey Trotwood.«

Dann waren es die beiden nicht gewesen. Die Namen stimmten nicht, und die Strümpfe, die ich aus dem Zug hatte steigen sehen, waren weiß gewesen, nicht blau.

»Nein«, sagte ich. »Die habe ich nicht gesehen. Ein junges Mädchen war hier und eine…«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Meine beiden sind absolut vorsintflutlich oder wären es, wenn einer noch an die Sintflut glauben würde. Wie würde Darwin sie nennen — präpelasgianisch? Oder vortrilobitianisch? Er muß wieder die Züge verwechselt haben.«

Er ging zu der Tafel, studierte den Fahrplan und wurde starr vor Ärger. »Vermaledeit!« sagte er, ein weiteres Wort, von dem ich immer geglaubt hatte, es existiere nur in Büchern. »Der nächste Zug aus London kommt erst um 3 Uhr 18, und dann wird es zu spät sein.«

Er schlug mit dem Strohhut gegen sein Bein. »Na ja, das war’s dann wohl«, sagte er. »Ob ich in der Mitra[12] noch etwas aus Maggie herausschlagen kann? Sie hat immer ein paar Kronen übrig. Schade, daß Cyril nicht hier ist. Sie mag Cyril.« Er setzte den Strohhut wieder auf und ging ins Bahnhofsgebäude zurück.

Von wegen Kontaktperson, dachte ich. Vermaledeit!

Und der nächste Zug kam nicht vor 12 Uhr 36. Vielleicht hätte ich die Kontaktperson dort treffen sollen, wo ich gelandet war, und ich sollte besser mein Gepäck nehmen und wieder zu dieser Stelle auf die Bahngleise zurückgehen. Falls ich sie wiederfand. Ich hätte sie mit einem Tuch markieren sollen.

Oder sollte ich zum Fluß gehen? Oder mit einem Boot irgendwohin fahren, um diese Person zu treffen? Ich schloß ganz fest die Augen. Dunworthy hatte etwas vom Jesus College gesagt. Nein, er hatte mit Finch über die Vorbereitungen gesprochen. Er hatte gesagt: »Ich erkläre Ihnen jetzt Ihren Auftrag« und dann etwas über den Fluß und über Crocket und Disraeli und… Ich preßte die Augen ganz fest zu und versuchte, die Erinnerung herbeizuzwingen.

»Hör mal«, sagte eine Stimme, »es tut mir leid, wenn ich störe, aber…«

Ich öffnete die Augen. Es war der junge Mann, der das Treffen mit den ältlichen Wittfrauen versäumt hatte.

»Hör mal«, sagte er wieder, »du willst nicht zufällig etwas auf dem Fluß unternehmen, oder? Sicher doch, wenn ich dich so ansehe, Strohhut, Blazer, Flanell, so wirst du ja kaum zu einer Hinrichtung gehen, was? Und in Oxford selbst ist um diese Jahreszeit nichts los. Als hätte Ockhams Skalpell gewütet,[13] wie Professor Peddick sagen würde. Was ich damit meine, ist, ob du schon Pläne hast, mit Freunden wegzufahren oder zu einer Hausparty zu gehen oder so etwas oder ob du allein etwas unternehmen willst?«

»Ich…« sagte ich und überlegte, ob er eventuell doch mein Kontaktmann und diese Ansprache so etwas wie ein Geheimcode war.

»Hör mal«, sagte er, »ich habe das alles falsch angefangen. Wir haben uns ja nicht einmal richtig miteinander bekannt gemacht.« Er nahm seinen Strohhut in die linke Hand und streckte die rechte aus. »Terence St. Trewes.«

Ich schüttelte seine Hand. »Ned Henry«, sagte ich.

»Von welchem College bist du?«

Ich versuchte mich gerade zu erinnern, ob Dunworthy jemanden mit dem Namen Terence St. Trewes erwähnt hatte, und die Frage, so nebenbei gestellt, traf mich völlig überraschend.

»Balliol«, sagte ich und hoffte auf gut Glück, daß er zum Brasenose College oder zu Keble[14] ging.

»Ahnte ich’s doch«, sagte er erfreut. »Einen von Balliol erkennt man immer auf den ersten Blick. Das macht der Einfluß von Jowett. Wer ist dein Tutor?«

Wer war 1888 in Balliol gewesen? Jowett, aber er hatte keine Schüler gehabt. Ruskin? Nein, er lehrte in Christ Church. Ellis? »Ich war dieses Jahr krank«, sagte ich, entschlossen, auf Nummer sicher zu gehen. »Ich fange erst im Herbst wieder an.«

»Und in der Zwischenzeit hat dir dein Arzt eine Bootsfahrt vorgeschlagen, damit du dich erholst. Frische Luft, Leibesübungen, Ruhe und das ganze Blabla. Und Ruhe, die des Gram’s Gespenst entwirrt.«[15]

»Ja, genau«, erwiderte ich, verwundert, daß er diesen Satz sagte. Vielleicht war er doch mein Kontaktmann?

»Mein Arzt schickte mich heute morgen hierher«, sagte ich, für den Fall, daß er es wirklich war und nur auf ein Zeichen von mir wartete. »Von Coventry.«

»Coventry?« sagte er. »Dort liegt doch Thomas Beckett begraben, nicht wahr? ›Befreit mich denn keiner von diesem elenden Pfaffen‹?«[16]

»Nein«, sagte ich. »Das ist Canterbury.«

»Aber da gab es doch auch etwas mit Coventry.« Sein Gesicht erhellte sich. »Lady Godiva«, sagte er. »Und Peeping Tom.«[17]

Nein, er war nicht mein Kontaktmann. Trotzdem war es nett, in einer Zeit zu sein, wo dies die einzigen Assoziationen mit Coventry waren und nicht die an zerstörte Kathedralen und Lady Schrapnell.

»Die Sache ist so«, sagte Terence und setzte sich zu mir auf die Bank, »daß Cyril und ich heute morgen einen Bootsausflug machen wollten. Das Boot war bereits gemietet, und wir hatten einen Noinscher dafür hinterlegt und bereits alle unsere Sachen gepackt, als Professorchen mich fragte, ob ich vielleicht seine greise Verwandtschaft abholen könnte, weil er dringend noch etwas über die Schlacht von Salamis schreiben mußte. Na ja, so ’nen Gefallen kann man seinem Tutor ja schlecht abschlagen, selbst wenn man eigentlich keine Zeit hat, und mein Vater wäre auch nicht begeistert davon gewesen, also ließ ich Cyril an der Follybrücke zurück, um auf unsere Sachen aufzupassen und sicherzugehen, daß Jabez nicht wieder einmal das Boot anderweitig vermietet, was nicht das erste Mal gewesen wäre, ob Deposit oder nicht. Ich merkte schon, daß ich spät dran war, also nahm ich mir vom Pembroke Square aus eine Droschke. Das Geld, was ich dafür bezahlt habe, war eigentlich der Rest für das Boot, aber ich dachte, die greise Verwandtschaft könnte auch ein Scherflein dazu beitragen. Allerdings hat er die Züge verwechselt, und ich kann unmöglich einen Vorschuß auf das Taschengeld vom nächsten Vierteljahr nehmen, weil ich das bereits alles beim Derby auf Beefsteak gesetzt habe, und Jabez weigert sich aus unerfindlichen Gründen, Studenten Kredit zu geben. Jetzt stecke ich hier fest wie Mariana im Süden,[18] und Cyril ist dort, ›sitzend wie die Geduld auf einer Gruft, dem Grame lächelnd‹.«[19] Er blickte mich erwartungsvoll an.

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9

William Shakespeare, Macbeth, V. Akt, 3. Szene. — Anm. d. Ü.

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10

Gedicht von Lewis Carroll; aus: Alice im Wunderland. — Anm. d. Ü.

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11

Dreizipfeliges Schultertuch. — Anm. d. Ü.

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12

Gasthof in Oxford, dessen Ursprung bis ins Jahr 1230 zurückverfolgt werden kann. Trägt seinen Namen seit 1631 im Gedenken an Bischof Fleming von Lincoln, dem Gründer des Lincoln College in Oxford. — Anm. d. Ü.

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13

Nach William Ockham, 1285–1349, engl. Scholastiker und Philosoph, der den Nominalismus und das Gesetz der Sparsamkeit postulierte, nachdem Begriffe, Annahmen und Konzepte nicht jenseits jeder Notwendigkeit multipliziert werden sollen. Auch bekannt als »Der unsichtbare Doktor«. — Anm. d. Ü.

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14

John Keble, engl. Geistlicher und Dichter, Mitbegründer der Oxforder Bewegung (Traktarianismus), einer mit dem Katholizismus sympathisierender Bewegung in der engl. Staatskirche im 19. Jahrhundert. — Anm. d. Ü.

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15

Erneut Wortspiel mit dem Satz: »Sleep, that knits up the ravell’d sleave of care«, aus: William Shakespeare, Macbeth, II. Akt, 2. Szene (dtsch. »Schlaf, der des Grams verworr’n Gespinst entwirrt.«) — Anm. d. Ü.

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16

Ausruf König Heinrichs II. an Weihnachten 1170 zu seinen Getreuen. Vier Ritter nahmen den Satz wörtlich, gingen hin und töteten Erzbischof Thomas Beckett in seiner Kathedrale. Beckett wurde ein Jahr später heiliggesprochen. — Anm. d. Ü.

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17

Legende aus dem 11. Jahrhundert. Lady Godiva befreite ihre Untertanen von der hohen Steuer, die ihr Mann, der Earl von Mercia, ihnen auferlegt hatte, indem sie einer Abmachung mit ihm zufolge nackt durch Coventry ritt. Der Schneider Tom beobachtete die Unbekleidete durch ein Guckloch, worauf er prompt erblindete. — Anm. d. Ü.

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18

Gemeint ist das Gedicht Mariana in the South von Alfred Lord Tennyson, dessen Titelheldin sich in einer ausweglos scheinenden Situation befindet. — Anm. d. Ü.

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19

William Shakespeare, Was Ihr wollt, II. Akt, 5. Szene. — Anm. d. Ü.