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»Nein, halt!« sagte Terence. »Du steuerst uns ja ans Ufer!«

Ich zog hastig an den Leinen, und wir glitten zur Flußmitte zurück.

Vor uns lagen die Bootshäuser der Colleges und der grüne Torbogen des Cherwellfriedhofs, und dahinter sah man den grauen Turm des Magdalen Colleges und die lange Kurve der Themse. Der Himmel über uns war dunstig blau, und am Horizont wanderten kleine Wölkchen vor der Sonne. Nahe der Uferböschung wuchsen Wasserlilien, und das Wasser zwischen ihnen war von einem klaren tiefen Braun, wie die Augen der Wassernymphen von Waterhouse.

»›Braun ist der Fluß‹«, zitierte ich, »›die Bäume grün zu beider Hand‹«, und hoffte dann, daß es vor 1888 geschrieben worden war.

»›Fließt dahin ohn’ Ende, und golden glänzt der Sand‹«,[29] erwiderte Terence, also hatte ich Glück gehabt.

»Bloß daß es nicht stimmt«, fuhr Terence fort. »Nach diesem Teil kommen bis Iffley nur noch Felder. Er fließt auch nicht für immer voran, sondern nur bis London. Das ist das Problem bei Gedichten. Sie stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein. Nimm zum Beispiel das Fräulein von Shalott. ›Sie löst die Kette, legt sich nieder; der breite Strom trägt sie davon‹.[30] Sie liegt also im Boot und läßt sich nach Camelot treiben, aber das kann unmöglich passieren. Wie kann man im Liegen ein Boot steuern? Nach einer Meile wäre sie schon im Schilf steckengeblieben. Cyril und ich haben ja schon Schwierigkeiten, das Boot geradeaus zu steuern, und wir liegen nicht auf dem Boden des Bootes, von wo aus man gar nichts mehr sehen kann, stimmt’s?«

Er hatte recht. Tatsache war, daß wir bereits wieder direkt auf das Ufer zusteuerten, das an dieser Stelle von überhängenden Kastanienbäumen mit dunkelgrünen Blättern bestanden war.

»Nach Steuerbord«, sagte Terence ungeduldig.

Ich zog an den Leinen, und das Boot schoß geradewegs auf eine Ente zu, die sich ein schwimmendes Nest aus Reisern und Kastanienbaumblättern gebaut hatte.

Die Ente quakte und schlug mit den Flügeln.

»Steuerbord!« rief Terence. »Nach rechts!« Er ruderte wie wild, und wir umschifften die Ente und kehrten in die Flußmitte zurück.

»Ich habe nie begriffen, wie so ein Fluß eigentlich beschaffen ist«, sagte Terence. »Fällt einem die Pfeife oder der Hut hinein und sei’s auch nur einen Zentimeter vom Ufer entfernt, schießt dieser Gegenstand pfeilschnell in die Mitte des Flusses Richtung Meer und rund um das Kap nach Indien, wie es wahrscheinlich auch der armen Prinzessin Arjumand passiert ist. Aber in einem Boot, wo man mit der Strömung fahren möchte, ist plötzlich alles voller Wirbel und Seitenströmungen, und man kann von Glück sagen, wenn man nicht im Treidelpfad landet. Und selbst wenn das Fräulein von Shalott nicht im Schilf endete, gibt’s da immer noch das Problem mit den Schleusen. Steuerbord, Mann! Steuerbord, nicht die Anlegestelle!« Er ließ die Taschenuhr aufschnappen, schaute darauf und begann dann noch energischer zu rudern, wobei er mir in Abständen zurief, das Boot steuerbords zu halten.

Aber trotz des unglücklichen Linksdralls des Bootes und der Tatsache, daß ich offenbar bei Kapitän Bligh[31] angeheuert hatte, fühlte ich endlich die ersten Anzeichen, daß ich zur Ruhe kam.

Ich hatte meinen Kontaktmann getroffen, der offenbar außerordentlich clever war — er spielte die Rolle eines Oxforder Studenten einfach perfekt —, und wir waren auf unserem Weg nach Muchings End. Christ Church Meadow war eine unbebaute Wiese und Lady Schrapnell einhundertsechzig Jahre von mir entfernt.

Ich konnte mich immer noch nicht recht entsinnen, was ich eigentlich in Muchings End machen sollte, aber Teile meiner Erinnerung kehrten zurück. Ich entsann mich, daß Dunworthy gesagt hatte: »Sobald es zurückgebracht wurde« und zu Finch, daß es sich »um einen kinderleichten Job« handelte und außerdem noch etwas über ein unbedeutendes Objekt. Ich konnte mich auch immer noch nicht erinnern, worum es sich dabei handelte, aber es steckte sicher irgendwo in diesem Berg Gepäckstücke, die im Bug des Bootes lagerten, und wenn alles nichts half, konnte ich immer noch bis Muchings End abwarten. Und vielleicht wußte es Terence. Ich würde ihn fragen, sobald wir uns von Oxford weit genug entfernt hatten. Wir hatten offenbar eine Verabredung in Iffley, und wahrscheinlich fand ich dort auch endlich heraus, was genau eigentlich geplant war.

In der Zwischenzeit bestand meine Aufgabe darin, mich auszuruhen und mich von den Symptomen der Zeitkrankheit zu kurieren und den Schäden, die Lady Schrapnell und diese ganzen Wohltätigkeitsbasare verursacht hatten, mich zurückzulehnen und dem Rat der Krankenschwester und Cyrils Beispiel zu folgen. Die Bulldogge hatte sich auf die Seite gerollt und schnarchte zufrieden.

Wenn das victorianische Zeitalter das richtige Krankenhaus war, so war der Fluß der richtige Pfleger. Die heilende Wärme der Sonne auf meinem Nacken, das beruhigende Gleiten der Ruderblätter ins Wasser, die friedliche Szenerie, in der ein Grün auf das andere folgte, das angenehme Summen der Bienen und Cyrils Schnarchen und Terences Stimme…

»Nimm zum Beispiel Lancelot«, sagte er gerade, offenbar wieder zum Fräulein von Shalott zurückgekehrt. »Da kommt er also in voller Rüstung, mit Helm und allem, reitet mit Schild und Lanze auf dem Pferd, und was singt er? ›Tirra-lirra‹. Tirra-lirra? Paßt denn so ein Lied zu einem Ritter? Tirra-lirra. Trotzdem«, setzte er hinzu und hielt einen Augenblick mit Rudern inne, »die Sache mit der Liebe auf den ersten Blick hat er richtig hingekriegt, obwohl er es ein bißchen zu dramatisch geschildert hat, diese ganze Stelle mit ›ein Riß durchfuhr den Spiegel quer, fort flog das Netz, trieb weit umher‹. Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick, Ned?«

Das Bild der Naiade, die ihren tropfenden Ärmel auf Dunworthys Teppich auswrang, trat mir unwillkürlich vor Augen, aber ein aus dem Gleichgewicht geratener Hormonhaushalt ist eindeutig ein Nebeneffekt der Zeitkrankheit, und das mochte wohl der Grund sein. »Nein«, sagte ich.

»Ich bis gestern auch nicht«, erwiderte Terence. »Und auch nicht ans Schicksal. Professor Overforce sagt, daß es so etwas nicht gäbe, alles wäre Zufall, aber wenn dem so ist, warum war sie ausgerechnet gestern genau an jener Stelle am Fluß? Und warum hatten Cyril und ich uns entschieden, Boot zu fahren anstatt Appius Claudius zu lesen? Wir übersetzten nämlich: ›Negotium populo romano melius quam otium comitti.‹ — ›Die Römer verstanden sich mehr aufs Arbeiten als aufs Ausruhen.‹ Und genau das, dachte ich, hatte ihren Untergang herbeigeführt, daß sie besser arbeiten als faulenzen konnten, und ich wollte nicht, daß dem britischen Weltreich das gleiche Schicksal widerfährt, also zogen Cyril und ich los und mieteten ein Boot, um damit nach Godstow zu fahren, und als wir durch dieses kleine Wäldchen dort kamen, hörte ich eine Stimme so süß wie die einer Fee ›Prinzessin Arjumand! Prinzessin Arjumand!‹ rufen, und ich schaute ans Ufer und dort stand es, das schönste Geschöpf, das ich je sah!«

»Prinzessin Arjumand?« fragte ich.

»Nein, nein, ein Mädchen, ganz in Rosa, mit goldenen Locken und einem lieblichen, wunderschönen Gesicht. Rosige Wangen und einen Mund wie eine Rosenknospe, und ihre Nase! ›Sie hat ein lieblich’ Gesicht‹ drückt’s einfach nicht richtig aus, aber was kann man auch von jemandem verlangen, der beim Reiten ›Tirra-lirra‹ singt? Ich saß da, in den Rudern hängend, und fürchtete mich, mich zu rühren, aus Angst, sie sei ein Engel oder ein Geist oder etwas Ähnliches, was beim Klang meiner Stimme verschwinden würde, und dann blickte sie hoch, sah mich und rief: ›Oh, Sir, haben Sie nicht zufällig eine Katze gesehen?‹

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29

Aus: Robert L. Stevenson, Child’s Garden of Verse. — Anm. d. Ü.

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30

Aus: Alfred Lord Tennyson, The Lady of Shalott. — Anm. d. Ü.

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31

Admiral William Bligh, Kapitän der Bounty, deren Mannschaft 1787 während einer Reise nach Tahiti gegen ihn meuterte. — Anm. d. Ü.