Sie trug einen weißen Hut mit blauen Blumen darauf, und darunter glänzte ihr nußbraunes Haar im Sonnenlicht.
»Bin ich zu spät?« fragte Terence.
»Nein«, erwiderte ich und dachte, aber ich.
Sie war das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte.
6. Kapitel
Non semper ea sunt quae videntur. (Die Dinge sind nicht immer, was sie scheinen)
Eine englische Rose • Rüschen • Cyril bewacht das Boot • Eine Botschaft von der Anderen Seite • Sehenswürdigkeiten • Ein Butler • Zeichen und Portale • Auf einem Dorffriedhof • Eine Erleuchtung • Ein Deckname • Erklärungen • Ein durchweichtes Tagebuch • Jack der Ripper • Moses im Schilf • Mehr Decknamen • Ein noch weniger erwartetes Ereignis
Ich weiß, daß ich sagte, die Naiade sei das wunderbarste Geschöpf, das ich je gesehen hätte, aber sie war naß und schmutzig gewesen, und selbst obwohl es gewirkt hatte, als wäre sie gerade einem prärafaelitischen Teich entstiegen, so war sie doch unverwechselbar einundzwanzigstes Jahrhundert gewesen.
So wie das Geschöpf auf der Brücke unverwechselbar neunzehntes Jahrhundert war. Keine Historikerin, gleich, wie gekonnt sie ihre weißen Röcke mit der behandschuhten Hand raffte oder wie hocherhoben sie das Haupt und wie gerade sie den aristokratischen Nacken hielt, konnte erhoffen, diese Qualität der Ruhe, der klaräugigen Unschuld einzufangen, die das Mädchen auf der Brücke ausstrahlte. Sie war wie eine zarte Blume, die nur in einer einzigen Zeit erblühen konnte, gebunden an das besondere Gewächshaus des ausgehenden victorianischen Zeitalters: die unberührte Blume, die erblühende englische Rose, der Engel des Hauses. In wenigen Jahren würde sie ausgestorben sein, abgelöst von radfahrenden Mädchen in Knickerbockers, Zigaretten rauchenden Backfischen und den Sufragetten.
Eine Welle tiefster Melancholie überkam mich. Nie würde ich sie mein eigen nennen können. Wie sie dort stand, mit ihrem weißen Schirm und dem klaren Blick ihrer grünlichbraunen Augen, das Abbild von Jugend und Schönheit, würde sie alsbald mit Terence verheiratet, alsbald gestorben und alsbald auf einem Dorffriedhof wie demjenigen oben auf dem Hügel begraben sein.
»Anlegen«, sagte Terence. »Nein, anlegen!« Er ruderte rasch an die Seite der Brücke, wo mehrere Pfähle aus der Erde ragten, an denen man offenbar das Boot vertäuen konnte. Ich schnappte das Seil, sprang in den glitschigen Uferschlamm und machte eine Schlinge, während Terence und Cyril bereits aus dem Boot herausgeklettert und auf dem Weg die steile Uferbank hoch in Richtung Brücke waren. Der Knoten, den ich fabrizierte, sah alles andere als gekonnt aus, und ich wünschte, Finchs Kassetten hätten etwas von Überhandknoten oder festgesteckten Trompetenknoten erzählt. Gab es hier eine Möglichkeit, das Boot mit einem Schloß zu sichern?
Wir sind hier im victorianischen Zeitalter, rief ich mir ins Gedächtnis. Eine Zeit, in der die Menschen einander trauen und in welcher der ernsthafte junge Mann sein Mädchen bekommt und dieses wahrscheinlich eben gerade schon auf der Brücke küßt.
Tat er aber nicht. Er stand oben auf der Uferbank und schaute sich verwirrt um. »Ich seh’ sie nicht«, sagte er, dabei geradewegs die Erscheinung anblickend. »Ihre Cousine ist hier, und dort steht der Landauer«, er zeigte auf eine offene Kutsche, die oben auf dem Hügel neben der Kirche wartete, »also muß sie noch hier sein. Wie spät ist es?« Er zog die Taschenuhr heraus. »Sie wird ja wohl nicht ihre Cousine geschickt haben, damit diese mir sagt, daß sie mich nicht sehen will. Falls sie…« — er brach ab. Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ein Mädchen in Rüschen erschien oben auf dem Hügel. Rüschen zierten den Rocksaum ihres weißen Kleides, die Schulternähte und die Ärmeln. Ihr Sonnenschirm hatte ebenfalls einen Rüschenbesatz, ebenso ihre kurzen weißen Handschuhe. Alle diese Rüschen bewegten sich, wie Fahnen, die in die Schlacht getragen wurden. Auf ihrem Hut befanden sich keine Rüschen, aber wie zum Ausgleich dafür flatterten rosa Bänder herab. Bei jedem Windhauch lockte sich das blonde Haar unter dem Hut und wippte.
»Schau, Cousine, es ist Mr. St. Trewes«, rief sie und kam den Hügel heruntergelaufen, wobei alles an ihr noch mehr in Bewegung geriet. »Ich sagte dir doch, er würde kommen!«
»Tossie«, erwiderte die Erscheinung in Weiß tadelnd, aber Tossie rannte bereits auf den Treidelpfad zu, wobei sie ihre wippenden Röcke gerade genug raffte, daß man die Zehen ungemein kleiner, schnell trippelnder Füße in weißen Schühchen sehen konnte.
Sie erreichte die Uferkante, hielt inne — zumindest das meiste von ihr —, beglückte uns mit einem flatternden Augenaufschlag und sagte zu Cyriclass="underline" »Ist das süße Hundie wieder zu seiner Tossie gekommen? Tossie hat ihr Hundie so vermißt.«
Cyril schaute erschrocken.
»War unser Hundie auch brav?« gurrte Tossie. »Sein Herrchen aber nicht. War ein ganz garstiger Junge. Kam und kam nicht.«
»Wir wurden aufgehalten«, warf Terence ein. »Professor Peddick…«
»Tossie hatte schon solche Aaangst, daß dieser vergeeeßliche Junge auch sie vergeeeßen haben könnte, nicht wahr, Sssyril?«
Cyril warf Terence einen resignierten Blick zu und trabte hin zu ihr, um sich den Kopf tätscheln zu lassen.
»Oh! Oh!« rief Tossie. Irgendwie brachte sie es fertig, daß es genauso klang, wie ich es in Romanen aus dem victorianischen Zeitalter gelesen hatte. »Oh!«
Cyril blieb verwirrt stehen und schaute Terence an. Dann lief er weiter.
»Böser, böser Hund!« sagte Tossie, die Lippen spitzend, um eine Reihe kleiner Schreie auszustoßen. »Dieses fürchterliche Geschöpf wird mein Kleid ruinieren. Es ist Seidenmusselin.« Sie raffte ihre Röcke nach hinten, aus Cyrils Reichweite. »Papa hat es extra für mich in Paris anfertigen lassen.«
Terence schoß nach vorn und packte Cyril, der bereits zurückgewichen war, am Halsband. »Ich muß mich für Cyrils Benehmen entschuldigen«, sagte er, »ebenso für mein Zuspätkommen. Wir mußten meinen Tutor vor dem Ertrinken retten.«
Die Cousine kam herbei. »Hallo, Cyril«, sagte sie freundlich und kniete sich hin, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen. »Hallo, Mr. St. Trewes. Wie schön, Sie wiederzusehen.« Ihre Stimme klang kultiviert und gelassen, ohne eine Spur von Babysprache. »Bedeutet Ihr Hiersein, daß Sie Prinzessin Arjumand gefunden haben?«
»O ja, erzählen Sie«, bat Tossie verspätet. »Haben Sie meine arme verlorengegangene Juju gefunden?«
»Leider nein«, sagte Terence. »Aber wir haben vor, weiterzusuchen. Darf ich Ihnen Mr. Henry vorstellen? Mr. Henry — Miss Mering und Miss Brown.«
»Guten Tag, Miss Mering. Guten Tag, Miss Brown«, sagte ich und tippte an meinen Strohhut, wie die Sublimationskassetten mich instruiert hatten.
»Mr. Henry und ich haben ein Boot gemietet.« Terence zeigte zum Fuß der Brücke, wo man die Bootsspitze gerade noch erblicken konnte. »Wir beabsichtigen, jeden Zentimeter der Themse zu erforschen.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Miss Brown, »aber ich habe keinen Zweifel daran, daß wir, wenn wir heute abend nach Hause zurückkehren, die Katze gesund und munter vorfinden werden.«
»Nach Hause?« fragte Terence bestürzt.
»Ja«, entgegnete Tossie. »Wir fahren heute nach Muchings End zurück. Mama hat eine Nachricht erhalten, daß wir dort benötigt werden.«