»Ich liiiebe diese alten Kirchen, Sie nicht auch?« fuhr Tossie, mich vollkommen ignorierend, fort. »Sie sind um so vieles schlichter als unsere modernen.«
Terence öffnete das schlichte, mit Hinweisschildern übersäte Portal. Tossie schloß ihren Schirm und trat ein, von Terence gefolgt. Ich erwartete, daß Cousine Verity sofort folgen würde. Finchs Kassetten hatten gesagt, daß junge victorianische Mädchen nie ohne Anstandsdamen sein durften, und ich nahm an, Cousine Verity war, Erscheinung oder nicht, eine solche Anstandsdame. Unten am Ufer hatte sie tadelnd genug geblickt, und die Kirche war bestimmt nur schwach beleuchtet und äußerst einladend zum Plänkeln.
Und das Schild am Portal sagte eindeutig, daß der Kirchenvorsteher nicht anwesend war.
Miss Brown jedoch schaute nicht einmal auf das halbgeöffnete Portal oder die schattige Dunkelheit im Innenraum der Kirche. Sie öffnete das schmiedeeiserne Tor, das mit dem Schild »Nicht auf den Boden spucken!« verziert war, und betrat den Friedhof.
Langsam schritt sie zwischen den Gräben hindurch, an mehreren Schildern vorbei, die uns anwiesen, weder Blumen zu pflücken noch uns gegen die Grabsteine zu lehnen, bis sie einen schiefstehenden Obelisken erreichte, gegen den sich offenkundig doch jemand gelehnt hatte.
Ich überlegte, was man am besten zu einer jungen victorianischen Dame sagte, wenn man mit ihr allein war. Finchs Kassetten hatten keine Hinweise auf Gesprächsthemen enthalten, die für einen jungen Mann und eine junge Dame, die sich gerade kennengelernt hatten, schicklich gewesen wären.
Politik auf keinen Fall, da ich keine Ahnung hatte, wie es um diese im Jahr 1888 stand, außerdem erwartete man von jungen Damen nicht, daß sie sich ihre hübschen Köpfchen über Staatsangelegenheiten zerbrachen. Religion ebenso wenig, weil Darwin immer noch heftig kontrovers diskutiert wurde. Ich versuchte mich zu erinnern, was die Personen in den victorianischen Theaterstücken zueinander gesagt hatten, die ich gesehen hatte, wie zum Beispiel Oscar Wildes Figuren in Der vortreffliche Chrichton oder Bunbury oder wie wichtig es ist, ernst zu sein.Standesfragen und witzige Epigramme. Ein Butler mit Flausen im Kopf war in diesen Stücken nicht vorgekommen, und witzige Epigramme fielen mir nicht ein. Außerdem ist es mit Humor immer eine gewagte Sache.
Miss Brown hatte den letzten Grabstein erreicht und schaute mich erwartungsvoll an.
Das Wetter. Aber wie sollte ich sie anreden? Miss Brown? Miss Verity? Mylady?
»Nun«, sagte sie ungeduldig. »Haben Sie sie zurückgebracht? Geht’s ihr gut?«
Diesen Gesprächsbeginn hatte ich nicht erwartet. »Wie bitte?« fragte ich.
»Baine hat Sie nicht gesehen, oder?« fragte sie. »Wo haben Sie sie gelassen?«
»Ich fürchte, Sie verwechseln mich mit jemandem…«
»Schon gut«, sagte sie und schaute zur Kirche hinüber. »Sie können uns nicht hören. Sagen Sie mir genau, was passiert ist, nachdem Sie sie durchs Netz gebracht haben.«
Ich mußte einen Rückfall erlitten haben. Das alles ergab keinen Sinn.
»Sie haben sie doch nicht ersäuft?« fragte sie ärgerlich. »Er versprach mir, sie nicht zu ersäufen.«
»Wen nicht ersäufen?«
»Die Katze.«
Es war noch schlimmer als das Gespräch mit der Krankenschwester. »Die Katze? Sie meinen, Tossie — Miss Merings verlorengegangene Katze? Prinzessin Arjumand?«
»Natürlich meine ich Prinzessin Arjumand.« Sie runzelte die Stirn. »Hat Dunworthy sie Ihnen nicht mitgegeben?«
»Dunworthy?« Ich starrte sie an.
»Ja. Hat er Ihnen die Katze nicht mitgegeben?«
Langsam begann es mir zu dämmern. »Sie sind die Naiade aus Dunworthys Büro«, stellte ich verwundert fest. »Aber das kann nicht sein. Sie hieß Kindle.«
»Ich heiße Kindle. Miss Brown ist mein Deckname. Die Merings haben keine Verwandten mit Namen Kindle, und man hält mich hier für eine Cousine zweiten Grades von Tossie.«
Es dämmerte immer mehr. »Sie sind der Unglücksfall«, sagte ich. »Der irgend etwas mit durch das Netz zurückbrachte.«
»Die Katze«, erwiderte sie ungeduldig.
Eine Katze. Natürlich. Das ergab mehr Sinn als Glatze oder Matratze. Und es erklärte den eigentümlichen Blick, den Dunworthy mir zugeworfen hatte, als ich das Plätzchen erwähnte. »Sie haben eine Katze mit durchs Netz gebracht«, sagte ich. »Aber das ist unmöglich. Man kann nichts durch das Netz mit in die Zukunft bringen.«
Jetzt war sie diejenige, die starrte. »Sie wissen nichts von der Katze? Aber ich dachte, man würde Sie mit der Katze zu mir schicken.« Ich fragte mich unbehaglich, ob sie das vielleicht vorgehabt hatten. Finch hatte mir gesagt, ich sollte warten, als ich drüben am Netz stand. Wollte er da die Katze holen, und war ich gesprungen, bevor er sie mir übergeben konnte?
»Sagte man Ihnen, daß man mich mit der Katze zurückschicken wollte?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Dunworthy weigerte sich, mir überhaupt etwas zu sagen. Er meinte, ich hätte bereits genügend Wirbel verursacht, und er wollte nicht, daß ich mich noch weiter einmischte. Ich nahm es einfach an, weil ich Sie in Dunworthys Büro gesehen hatte.«
»Ich war dort, um mit Dunworthy über meine Zeitkrankheit zu sprechen«, sagte ich. »Man hatte mir zwei Wochen strenge Bettruhe verordnet, und deshalb hat Dunworthy mich hierhergeschickt.«
»Ins victorianische Zeitalter?« Sie schaute belustigt.
Ich nickte. »Ich konnte nicht in Oxford bleiben, denn Lady Schrapnell…«
Sie schaute noch belustigter. »Er hat Sie hierhergeschickt, damit Sie aus Lady Schrapnells Reichweite sind?«
»Ja«, erwiderte ich alarmiert. »Sie ist doch nicht etwa hier?«
»Nicht direkt«, sagte sie. »Wenn Sie schon die Katze nicht dabei haben, wissen Sie wenigstens, wen sie damit zurückschicken werden?«
»Nein«, sagte ich und versuchte, mich an die Unterhaltung im Laboratorium zu erinnern. »Nehmen Sie Verbindung auf mit…« hatte Dunworthy gesagt. Andrews? Jetzt entsann ich mich. »Nehmen Sie mit Andrews Verbindung auf«, hatte Dunworthy gesagt.
»Sie sagten, sie wollten mit Andrews Verbindung aufnehmen.«
»Und was sonst noch? Sagte man, wann sie ihn schicken wollen? Und ob der Sprung klappte?«
»Nein«, sagte ich. »Aber ich döste ein paar Mal ein. Wegen der Zeitkrankheit.«
»Wann genau hörten Sie von Andrews?«
»Heute morgen, während ich auf meinen Sprung wartete.«
»Wann kamen Sie durch?«
»Heute morgen. Um zehn Uhr.«
»Das erklärt einiges«, sagte sie erleichtert. »Ich war in großer Sorge, als ich zurückkam und Prinzessin Arjumand nicht vorfand. Ich befürchtete, irgend etwas sei schiefgegangen, und es hätte nicht geklappt, sie durch das Netz zurückzuschicken, oder Baine hätte sie gefunden und erneut versucht, zu ersäufen. Und als Mrs. Mering darauf bestand, wegen der Katze nach Oxford zu kommen, um Madame Iritosky zu konsultieren und dieser junge Mann auf der Bildfläche auftauchte, vermutete ich das Schlimmste. Aber nun ist alles in Ordnung. Man schickte sie offenbar durch, nachdem wir nach Oxford abgereist waren, und der Besuch hier kam gerade gelegen. So waren wir alle aus dem Weg, niemand konnte sehen, wie sie zurückgebracht wurde, und Baine ist auch hier, und so kann er sie nicht ersäufen, bevor wir nicht heimgekehrt sind. Und der Sprung muß erfolgreich gewesen sein oder Sie wären nicht hier. Dunworthy sagte, er würde alle Sprünge ins neunzehnte Jahrhundert stoppen, bis die Katze zurückgebracht worden sei. Also ist alles in Ordnung. Dunworthys Experiment hat geklappt, Prinzessin Arjumand wird zu Hause auf uns warten, um uns zu begrüßen, und es gibt nichts, worüber wir uns Sorgen machen müßten.«