Kein Problem. Sie hatte etwas getan, von dem die Zeittheorie behauptete, es sei unmöglich. Und damit wahrscheinlich eine Inkonsequenz im Kontinuum erzeugt. Kein Wunder, daß Dunworthy Chiswick alle diese Fragen gestellt und den armen T. J. Lewis so in die Mangel genommen hatte. Kein Problem…
Ein Plätzchen war eine Sache, ein lebendiges Kätzchen eine andere. Und selbst ein Plätzchen würde nicht durchs Netz gelangen. Darby und Gentilla hatten dies bewiesen, damals zu Beginn der Zeitreisen. Sie bauten das Netz als eine Art Piratenschiff, um damit die Schätze der Vergangenheit zu plündern, und probierten es bei allem aus, von der Mona Lisa bis hin zum Grabmal von Tutenchamun, und als das nicht klappte, an alltäglicheren Dingen wie Geld zum Beispiel. Doch außer mikroskopisch kleinen Teilchen gelangte nichts durch das Netz. Wenn sie versuchten, Gegenstände, selbst kleine Münzen oder Fischgabeln, aus ihrer angestammten Zeit zu entfernen, öffnete sich das Netz nicht. Es ließ auch weder Keime noch Strahlung oder elektromagnetische Strömungen durch, worüber Darby, Gentilla und der Rest der Welt hätten dankbar sein müssen, es aber sicher nicht waren.
Die Multis, die Darby und Gentillas Projekte finanzierten, verloren das Interesse, und Zeitreisen wurde Historikern und Wissenschaftlern überlassen, die die Theorien des Schlupfverlustes entwickelten und das Gesetz der Beständigkeit der Geschichte, um die Theorien zu untermauern, und es wurde allgemein als physikalisches Gesetz akzeptiert, daß sich das Netz nicht öffnete, wenn jemand versuchte, etwas aus der Vergangenheit in die Zukunft zu transportieren. Bis jetzt…
»Das Netz öffnete sich also einfach, als Sie versuchten, die Katze mit durchzubringen?« fragte ich. »Ist Ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen, Verzögerungen oder Hüpfer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war wie immer.«
»Und der Katze ging es gut?«
»Sie schlief. Schlief während des Sprungs in meinem Arm ein und wachte nicht einmal auf, als wir zu Dunworthys Büro kamen. Offenbar wirkt die Zeitkrankheit so auf Katzen. Völliger Blackout.«
»Sie gingen zu Dunworthy?«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich brachte die Katze sofort zu ihm, als ich merkte, was ich angestellt hatte.«
»Und er entschied sich für den Versuch, sie zurückzuschicken?«
»Ich bekam aus Finch so viel heraus, daß sie offenbar sofort alle Sprünge ins victorianische Zeitalter überprüfen wollten, und falls es keinen Hinweis auf außergewöhnliche Schlupfverluste gab, hieße das, die Katze sei zurückgebracht worden, bevor ihr Verschwinden Probleme ergeben konnte, und demzufolge wollte man sie zurückschicken.«
Aber es hatte doch ungewöhnliche Verluste gegeben, dachte ich. Hatte Dunworthy nicht Carruthers über Coventry befragt?
»Und was war mit den Problemen, die in Coventry auftauchten?«
»Die hatten laut Finch nichts mit uns zu tun, sondern mit der Tatsache, daß Coventry ein geschichtlicher Krisenpunkt ist. Wegen seiner Verbindung mit Ultra. Es war das einzige Gebiet mit außerordentlichen Verlusten. Bei den Sprüngen ins victorianische Zeitalter gab es keine.« Sie schaute zu mir hoch. »Wie hoch war der Schlupfverlust bei Ihrem Sprung?«
»Ich hatte keinen«, sagte ich. »Ich traf genau ins Schwarze.«
»Gut«, sagte sie mit erleichterter Miene. »Bei mir waren es nur fünf Minuten. Finch sagte, eine Inkonsequenz manifestiere sich zuerst in einem verzögerten Sprung…«
»Oh, ich liiiebe Dorffriedhöfe«, erklang Tossies Stimme, und ich wich von Verity zurück wie ein victorianischer Liebhaber. Verity bewahrte Haltung, öffnete ihren Schirm und erhob sich mit gelassener Grazie.
»Sie sind so herrlich ländlich«, sagte Tossie und kam mit wehenden Fahnen ins Blickfeld. »Ganz anders als unsere modernen Friedhöfe.« Sie blieb stehen, um einen Grabstein zu bewundern, der halb umgestürzt war. »Baine sagt, Kirchhöfe seien etwas Unhygienisches. Sie verunreinigten den Grundwasserspiegel, aber ich glaube, der bleibt völlig unberührt davon. Was meinen Sie, Mr. St. Trewes?«
»›An dieser Ulme, diesem Eschenbaum‹«, zitierte Terence pflichtbewußt, »›wo sich der Grund in Moderhügeln hebt‹…«
Diese Bemerkung über Moder schien Baines Ansicht zu bestätigen, aber es fiel weder Tossie noch Terence auf. Terence vor allem nicht, der weiter deklamierte: »›Ruh’n rohe Ahnen in dem engen Raum, die in dem kleinen Dörfchen einst gelebt.‹«
»Oh, ich liiiebe Tennyson«, sagte Tossie. »Du nicht auch, Cousine?«
»Thomas Gray«, erwiderte Verity. »Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof.«
»Oh, Mr. Henry«, fuhr Tossie fort, als hätte sie Verity nicht gehört, »Sie müssen unbedingt das Innere der Kirche anschauen. Die verzierte Vase dort ist wirklich allerliebst. Nicht wahr, Mr. St. Trewes?«
Terence nickte abwesend, den Blick verklärt auf Tossie gerichtet. Ich sah, wie Verity die Stirn runzelte. »Das müssen wir unbedingt sehen«, sagte sie und raffte mit der behandschuhten Hand ihre Röcke. »Mr. Henry?«
»Unbedingt«, stimmte ich zu, bot ihr meinen Arm, und wir gingen alle gemeinsam in die Kirche hinein, an einem Schild vorbei, auf dem zu lesen stand: »Unbefugten ist das Betreten bei Strafe verboten!«
Die Kirche war kalt, und es roch leicht nach altem Holz und stockfleckigen Gesangbüchern. Der Innenraum war mit dicken normannischen Säulen geschmückt sowie einem hohen frühenglischen Gewölbe, welches das Allerheiligste beherbergte, einem victorianischen Rosettenfenster und einem großen Anschlag, auf dem stand: »Das Betreten des Altarraums ist verboten!«
Tossie ignorierte die Bitte großzügig, ebenso den normannischen Schiefertaufstein, und rauschte zu einer Wandnische gegenüber der Kanzel. »Ist das nicht süüüß?«
Jetzt stand außer Frage, daß sie mit Lady Schrapnell verwandt war, und ebenso, woher Lady Schrapnell ihren Geschmack geerbt hatte, wobei man bei Tossie allerdings noch die Entschuldigung geltend machen konnte, daß sie schließlich Victorianerin und Teil einer Zeit war, die nicht nur den St. Pancras Bahnhof erbaut hatte, sondern auch noch das Albert Memorial.
Die Vase in der Wandnische glich beidem, bloß fehlten die grandiosen Ausmaße. Sie besaß nur eine Ebene und keine korinthischen Säulen, dafür aber Efeuranken und ein Halbrelief, das entweder die Arche Noah oder die Schlacht von Jericho zeigte.
»Was soll das darstellen?« fragte ich.
»Herodes’ Mord an den Erstgeborenen«, murmelte Verity.
»Die Töchter des Pharaos, die im Nil baden«, erklärte Tossie. »Schau, dort im Schilf sieht das Körbchen von Moses. Ich wollte, wir hätten so etwas in Muchings End. In unserer Kirche gibt es nur alten Krimskrams. Das hier ist wie in diesem Gedicht von Tennyson.« Begeistert klatschte sie in die Hände. »Dem Gedicht über eine griechische Vase.«
Das letzte, was wir brauchten, war Terence, der die Ode an eine griechische Vase von Keats zitierte. Ich schaute Verity verzweifelt an und überlegte krampfhaft, unter welchem Vorwand wir uns am unauffälligsten entfernen und wo wir uns am besten unterhalten konnten. Die Zahnornamente? Cyril? Verity betrachtete seelenruhig das steinerne Deckengewölbe, als hätten wir alle Zeit der Welt zur Verfügung.