Выбрать главу

Finch packte mich am Arm und zischte: »Es ist jemand anderes«, aber in gleichen Moment hatte ich es auch bemerkt.

»Ich verstehe nicht ganz, warum nicht«, antwortete eine weibliche Stimme, und es war nicht Lady Schrapnell, denn die Stimme klang eher lieblich als trompetend, und ich konnte nicht verstehen, was sie nach dem Wörtchen nicht sagte.

»Wer ist das?« flüsterte ich und entkrampfte mich in Finchs Griff.

»Das Unglück«, gab er leise zurück.

»Wie, um alles in der Welt, sind Sie auf die Idee gekommen, Sie könnten so etwas durch das Netz mit zurückbringen?« brüllte Dunworthy. »Sie haben doch Zeittheorie studiert!«

Finch zuckte zusammen. »Soll ich Mr. Dunworthy sagen, daß Sie hier sind?« fragte er zögernd.

»Nein, lassen Sie nur.« Ich ließ mich auf einen der chintzbezogenen Stühle sinken. »Ich warte hier.«

»Warum, um alles in der Welt, haben Sie sie überhaupt zuerst ins Netz mitgenommen?« schrie Dunworthy.

Finch nahm eines der uralten Faxmagazine und brachte es mir.

»Danke, ich möchte nichts lesen«, wehrte ich ab. »Ich möchte nur hier sitzen und mit Ihnen zusammen den Lauscher an der Wand spielen.«

»Sie sollen die Zeitschrift nicht lesen, sondern darauf sitzen«, sagte er. »Es ist außerordentlich schwierig, Rußflecken aus Chintz zu entfernen.«

Ich stand auf, ließ ihn die aufgeschlagene Zeitschrift auf den Stuhl legen, und setzte mich wieder.

»Wenn Sie schon etwas derartig Unverantwortliches tun mußten«, schrie Dunworthy, »warum konnten Sie dann nicht bis nach der Einweihung warten?«

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand und schloß die Augen. Es war recht angenehm, mitanzuhören, wie zur Abwechslung einmal jemand anderem die Leviten gelesen wurden, und dazu noch von jemand anderem als Lady Schrapnell, auch wenn es unklar war, welcher Missetat sich das »Unglück« schuldig gemacht hatte. Vor allem, als Dunworthy schrie: »Das ist keine Entschuldigung. Warum haben Sie die Matratze nicht einfach aus dem Wasser gezogen und am Ufer zurückgelassen? Warum mußten Sie sie ins Netz schleppen?«

Matratzenschleppen schien zwar weniger unwahrscheinlich wie Glatzen mitgehen lassen, doch keines von beiden bot sich als ideales Objekt für eine Rettungsaktion aus einem nassen Grab an. Vor allem Glatzen nicht. Und wie sollten die eigentlich durchs Netz transportiert werden? Die Frage nach dem zugehörigen Kopf ließ mich schaudern.

In Büchern und Videos wird dem Lauscher von den Belauschten freundlicherweise immer alles mitgeteilt, was er benötigt, um das Gehörte richtig zu begreifen. Der Belauschte sagt: »Natürlich wissen Sie ja alle schon, daß diese Matratze, von der ich spreche, damals auf der Fahrbahn dieser Brücke lag, gerade als die Droschke mit Sherlock Holmes im dichten Nebel heranpreschte. Sie wissen doch, in jener Nacht, als Holmes diesen Hund von Baskerville verfolgte und man die Hand nicht vor Augen sah, aber ich erzähle das noch mal, damit Sie besser verstehen, wieso die Droschke vom Weg abkam und Holmes fast in die Tiefe gerissen hätte, weshalb er…« — eine Erklärung, die den hinter der Tür geduckten Lauscher über das Geschehen völlig ins Bild setzt. Oft findet er auch einen hilfreich im Zimmer deponierten Stadt- oder Gebäudeplan.

Solches Entgegenkommen wird dem Lauscher im wirklichen Leben nicht zuteil. Anstatt die Situation klarer zu umreißen, sagte der Unglücksfalclass="underline" »Es war ja nur, weil Lehm zurückkam, um sich noch mal zu vergewissern«, eine Bemerkung, welche die Angelegenheit noch mehr verwirrte.

»Herzloses Ungeheuer«, sagte die Stimme, und es blieb unklar, ob sie diesen Lehm meinte, der zurückgekommen war, oder Dunworthy. »Und sie wäre ja doch nur zurück zum Haus gelaufen, und er hätte es erneut probiert. Ich wollte nicht, daß er mich sah, weil er sonst erkannt hätte, daß ich nicht aus seiner Zeit stammte, und es gab keine andere Möglichkeit, als sich im Netz zu verstecken. Im Gartenpavillon hätte er mich entdecken können. Ich dachte nicht…«

»Genau, Miss Kindle«, sagte Dunworthy. »Sie dachten nicht.«

»Was werden Sie jetzt tun?« fragte der Unglücksfall. »Sie zurückschicken? Sie werden sie ersäufen, stimmt’s?«

»Ich habe nicht vor, irgend etwas zu tun, bevor ich nicht alle Möglichkeiten in Betracht gezogen habe«, entgegnete Dunworthy.

»Vollkommen herzlos«, sagte sie.

»Ich bin ein ausgesprochener Freund von Schwätzchen«, sagte er, »aber hier steht eine Menge auf dem Spiel. Ich muß sämtliche Konsequenzen und Möglichkeiten bedenken, bevor ich handle. Ich nehme an, eine solche Regung ist Ihnen fremd.«

Schwätzchen? Ein Freund davon? Taxichauffeure fielen mir ein, für mich der Ausbund an Geschwätzigkeit, besonders diejenigen, die zur Zeit des Blitzkriegs lebten und offenbar der Warnung, daß man den Teufel nicht an die Wand malen sollte, überhaupt keine Beachtung schenkten. Sie steckten voller geschwätziger Geschichten über Leute, die lebendig unter Trümmern begraben worden waren oder von einer Bombe zerrissen… »Den Kopf schleuderte es über die ganze Straße in eine Schaufensterscheibe hinein. Armer Kerl. Saß friedlich im Taxi, wie Sie gerade auch.«

»Schicken Sie mich zurück?« fragte sie. »Ich sagte ihnen, ich würde mit meinem Skizzenblock zum Fluß gehen. Wenn ich nicht wiederkomme, werden sie denken, ich sei ertrunken.«

»Ich weiß es nicht. Bleiben Sie in Ihrem Zimmer, bis ich mich entschieden habe.«

»Kann ich sie mitnehmen?«

»Nein.«

Ein unheilschwangeres Schweigen entstand, dann öffnete sich die Tür, und in ihrem Rahmen erschien das schönste Geschöpf, das ich jemals gesehen hatte.

Neunzehntes Jahrhundert, hatte Finch gesagt, und ich hatte Reifröcke erwartet, aber sie trug ein langes, grünliches Gewand, das an ihrem Körper klebte, als sei es naß. Langes nußbraunes Haar floß wie Wasserschlingpflanzen über Schulter und Rücken hinab, und insgesamt sah sie aus wie eine von Waterhouse gemalte Flußnymphe, die sich einer Erscheinung gleich aus dem dunklen Wasser erhob.

Ich stand auf, mit offenem Mund starrend wie der neue Rekrut, und nahm meinen Luftschutzhelm ab. Der heftige Wunsch überfiel mich, den Rat der Schwester beherzigt und mich gewaschen zu haben.

Das Mädchen packte den lang herabhängenden Ärmel ihres Gewandes und wrang ihn auf dem Teppich aus. Finch grapschte nach einem Faxmagazin und hielt es unter den Ärmel.

»O Ned, gut, daß Sie da sind«, sagte Dunworthy von der Tür her. »Genau der Mensch, den ich jetzt brauche.«

Die Nymphe schaute mich an. Ihre Augen waren von einem klaren, dunklen, grünlichen Braun, der Farbe eines Waldsees. Sie kniff sie zusammen. »Sie wollen doch nicht etwa den hier losschicken?«

»Ich schicke überhaupt niemanden. Und auch überhaupt nichts, bis ich nicht weiter nachgedacht habe. Gehen Sie jetzt und ziehen Sie diese nassen Sachen aus, bevor Sie sich eine Erkältung holen.«

Sie raffte ihren tropfenden Rock hoch und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür wandte sie sich um, die rosigen Lippen wie zu einem segnenden Abschiedswort geöffnet, zu ein paar vielleicht an mich gerichtete Worte der Liebe und Ergebung. »Füttern Sie sie nicht. Sie fraß bereits einen vollen Keller.« Und damit wirbelte sie aus dem Zimmer.

Ich setzte mich in Bewegung, um ihr verzaubert zu folgen, aber Dunworthy hatte bereits die Hand auf meiner Schulter. »Also hat Finch Sie doch gefunden«, sagte er und schob mich um Finchs Schreibtisch herum in das innere Büro. »Ich befürchtete schon, Sie wären bereits wieder in Richtung 1940 abgeschwirrt, zu einem dieser Wohltätigkeitsbasare, zu denen Lady Schrapnell Sie ständig schickt.«