»Sprecht keine Namen aus!« flüsterte Siuan scharf. Sie warf einen warnenden Blick in Richtung der grob gezimmerten Tür, hinter der ein Wächter wartete. »Eine lose Zunge, und Ihr zappelt selbst im Netz anstatt des Fisches.«
Min verzog das Gesicht, teils, weil sie die Fischerweisheiten Siuans aus ihrer tairenischen Heimat langsam nicht mehr hören konnte, teils, weil die Frau auch noch dazu recht hatte. Bisher waren sie schneller gewesen als mögliche Berichte über sie, die sie in Verlegenheit bringen konnten — nun ja, tödliche Berichte, um ehrlich zu sein —, aber es gab eben Dinge, die irgendwie an einem Tag hundert Meilen zurücklegen konnten. Siuan war als ›Mara‹ gereist, Leane als ›Amaena‹, und Logain hatte den Namen ›Dalyn‹ angenommen, nachdem ihn Siuan davon überzeugt hatte, daß ›Guaire‹ absolut närrisch gewesen wäre. Min glaubte nach wie vor, niemand werde ihren richtigen Namen herausfinden, doch Siuan bestand darauf, sie ›Serenla‹ zu nennen. Selbst Logain kannte ihre wirklichen Namen nicht.
Das Schlimmste war, daß Siuan nicht daran dachte, aufzugeben. Wochenlang nichts als Mißerfolge, und nun das, aber wenn sie auch nur Tear erwähnte — das vernünftigste Ziel —, dann explodierte sie und schüchterte selbst Logain durch ihre Heftigkeit ein. Je länger sie suchten, ohne zu finden, was immer Siuan zu finden hoffte, desto schlimmer wurden deren Launen. Na ja, vorher war sie auch schon schlimm genug. Min war aber klug genug, so etwas nicht auszusprechen.
Leane beendete endlich die Arbeit an ihrem Kleid, zog es sich über den Kopf und faßte dann mit beiden Händen nach hinten, um es zuzuknöpfen. Min begriff nicht, warum sie sich soviel Mühe damit machte; sie selbst haßte die Stopferei oder überhaupt alle Handarbeiten. Der Ausschnitt war jetzt ein wenig tiefer und zeigte etwas von Leanes Busen. Außerdem saß das Kleid jetzt ein bißchen enger an der Brust wie um die Hüften. Aber was wollte sie ausgerechnet hier damit erreichen? In diesem Backofen von Schuppen würde niemand sie zum Tanzen auffordern.
Leane kramte in Mins Satteltaschen herum und zog schließlich das Holzkästchen mit Farbstoffen und Pudern und allen möglichen Kosmetika heraus, das Laras Min noch aufgedrängt hatte, bevor sie aufbrachen. Min hatte es die ganze Zeit über wegwerfen wollen, aber irgendwie hatte sie sich dann doch nie dazu durchringen können. In dem Deckel des Kästchens war ein kleiner Spiegel angebracht, und nach wenigen Augenblicken machte sich Leane mit kleinen Pinseln aus Kaninchenfell an ihrem Gesicht zu schaffen. Zuvor hatte sie sich nie für so etwas interessiert. Jetzt schien sie sich sogar aufzuregen, weil nur eine Ebenholz-Haarbürste vorhanden war und dazu ein kleiner Elfenbeinkamm. Und sie knurrte empört, weil es keine Möglichkeit gab, den Lockenstab zu erhitzen! Ihr dunkles Haar war ein ganzes Stück gewachsen, seit Siuan ihre Suche begonnen hatte, doch es hatte ihre Schultern noch nicht erreicht.
Nachdem sie eine Weile zugesehen hatte, fragte Min: »Was habt Ihr vor, Le... Amaena?« Sie mied es, Siuan anzublicken. Sie hielt ja sonst wirklich den Mund. Aber hier eingesperrt zu sein und lebendig gebacken zu werden, und dazu noch auf eine Gerichtsverhandlung warten zu müssen... Aufgehängt oder öffentlich verprügelt zu werden! Tolle Alternativen! »Habt Ihr euch entschlossen, mit jemandem zu flirten?« Sie hatte es als Scherz gemeint, um etwas Heiterkeit zu verbreiten, doch die sonst immer so nüchterne und tüchtige Frau überraschte sie.
»Ja«, antwortete Leane knapp. Sie blickte mit weit geöffneten Augen in den Spiegel, während sie sorgfältig an ihren Augenbrauen arbeitete. »Und wenn ich mit dem richtigen Mann flirte, müssen wir uns vielleicht keine Sorgen mehr über Prügelstrafe oder ähnliches machen. Zumindest kommen wir dann aber vielleicht etwas leichter weg.«
Min hatte die Hand halb erhoben, um sich das Gesicht wieder abzuwischen, doch nun schnappte sie nach Luft. Das war, als ob eine Eule verkündete, sie werde ab jetzt zum Kolibri werden. Siuan jedoch setzte sich lediglich zurecht und warf Leane einen durchdringenden Blick zu. »Was hat das denn ausgelöst?« fragte sie.
Hätte Siuan sie so angesehen, dann hätte Min vermutlich alles zugegeben, was sie schon längst vergessen glaubte. Wenn sich Siuan so auf jemanden konzentrierte, dann ertappte man sich dabei, wie man knickste und sprang, um schnell jedem Auftrag nachzukommen, bevor es einem selbst klar wurde. Das passierte meistens sogar Logain. Außer, daß er bestimmt nicht knickste.
Leane tupfte sich gelassen mit einem winzigen Pinselchen über die Backenknochen und musterte das Ergebnis in dem kleinen Spiegel. Sie blickte kurz zu Siuan hinüber, aber was sie dort auch immer gesehen haben mochte, jedenfalls antwortete sie im gleichen knappen Ton wie sonst: »Meine Mutter war eine Händlerin, wie Ihr wißt. Sie verkaufte vor allem Felle und Holz. Ich habe einmal beobachtet, wie sie den Verstand eines Lords aus Saldaea so verwirrte, daß er ihr seinen ganzen Jahresbestand an Holz zum halben Preis verkaufte, und ich bezweifle, daß ihm das klar wurde, bevor er wieder zu Hause war. Wenn überhaupt. Später hat er ihr einen Armreif aus Mondstein geschickt. Der Ruf der Domani-Frauen mag übertrieben sein, da er hauptsächlich von prüden alten Jungfern erfunden wurde, die sie auch nur vom Hörensagen kannten, aber einiges daran ist zumindest nicht ganz falsch. Das habe ich bei meiner Mutter und meinen Tanten und natürlich meinen Schwestern und Cousinen gesehen.«
Sie blickte an sich herunter, schüttelte den Kopf und fuhr seufzend fort, während sie fleißig weiterpinselte: »Doch ich fürchte, ich war bereits an meinem vierzehnten Namenstag so groß wie heute. Nur Knie und Ellbogen, die an mir auffielen, wie bei einem Fohlen, das zu schnell gewachsen ist. Und nicht lange, nachdem ich gelernt hatte, durch ein Zimmer zu schreiten, ohne dabei wenigstens zweimal zu stolpern« — sie atmete erst einmal tief durch —, »erfuhr ich, daß mein Leben mich sowieso in eine ganz andere Richtung führen werde und nicht wie die anderen zum Handel. Nun ja, das ist nun auch schon wieder vorüber. Es wird Zeit, daß ich ein wenig von dem verwende, was man mir vor so vielen Jahren beigebracht hat. Unter den gegebenen Umständen könnte ich mir keinen besseren Zeitpunkt und Ort dafür vorstellen.«
Siuan musterte sie einen Augenblick lang abschätzend. »Das ist aber nicht der wahre Grund. Jedenfalls nicht alles. Heraus damit!«
Leane warf einen kleinen Pinsel vehement in das Kästchen und fuhr wütend auf: »Der ganze Grund? Ich kenne den ganzen Grund selbst nicht. Ich weiß nur, daß ich etwas brauche, das in meinem Leben den Platz einnimmt, der früher... was eben jetzt nicht mehr da ist. Ihr habt mir doch selbst gesagt, daß nur darin die Hoffnung auf ein Überleben liege. Für mich reicht Rache als Motivation einfach nicht aus. Ich weiß, daß Eure Sache notwendig ist und vielleicht sogar wertvoll, aber das Licht helfe mir: es reicht nicht aus. Ich kann darin nicht so aufgehen wie Ihr. Vielleicht bin ich damals schon zu alt gewesen. Ich werde bei Euch bleiben, aber Euer Feldzug ist mir eben nicht genug.«
Ihr Zorn verrauchte, als sie begann, die Tiegel und Röhrchen wieder zu verschließen und zurückzulegen. Allerdings tat sie es etwas heftiger als eigentlich notwendig. Die feinste Andeutung von Rosenduft umgab sie. »Ich weiß, daß man die Leere nicht durch Flirten ausfüllen kann, aber wenigstens kann es den Augenblick doch etwas verschönern. Vielleicht reicht es, wenn ich einfach diejenige bin, als die ich geboren wurde. Ich weiß es eben nicht. Das ist auch kein neuer Einfall. Ich wollte immer wie meine Mutter und meine Tanten sein. Ich habe manches Mal noch davon geträumt, als ich längst erwachsen war.«