»Solange sie Euch nicht gerade mitten in einem entscheidenden Spiel jucken«, stellte Bryne trocken fest. »Kommt mit mir, Ihr beiden. Und erwartet nicht zuviel Schlaf in nächster Zeit. In dieser Gegend muß alles vorgestern erledigt werden, außer den Dingen, die schon letzte Woche erledigt werden sollten.« Er schwieg einen Augenblick und sah Siuan an. »Meine Hemden waren heute keineswegs sauber genug.« Damit führte er Thom und Uno davon. Siuan blickte ihm hinterher und dann mit finsterer Miene auf Min. Die verzog das Gesicht und eilte in die gleiche Richtung wie Leane zuvor.
Nynaeve verstand überhaupt nicht, was da zwischen Bryne und den Frauen vorging. Und die Frechheit dieser Männer regte sie auf: Sie glaubten anscheinend, einfach über ihren Kopf hinweg oder vor ihrer Nase über Dinge sprechen zu können, die sie nicht verstand. Jedenfalls zum großen Teil!
»Gut, daß er keinen Diebfänger brauchen kann«, sagte Juilin. Er schielte aus dem Augenwinkel nach Siuan und schien sich in ihrer Gegenwart offensichtlich nicht wohl zu fühlen. Er war noch nicht über den Schreck hinweg, als er ihren Namen erfahren hatte. Nynaeve war nicht sicher, ob er wirklich begriffen hatte, daß sie einer Dämpfung unterzogen worden und keine Amyrlin mehr war. Bei ihr trat er auf jeden Fall nervös von einem Fuß auf den anderen. »Dann kann ich mich wenigstens gemütlich hinsetzen und mich unterhalten. Ich habe eine Menge Leute gesehen, die bestimmt bei einem Krug Bier auftauen.«
»Er hat mich praktisch überhaupt nicht beachtet!« sagte Elayne in ungläubigem Staunen. »Es ist mir gleich, was für Streitigkeiten er mit meiner Mutter hat, aber er hat kein Recht... Nun, um Lord Gareth Bryne werde ich mich später kümmern. Ich muß mich mit Min unterhalten, Nynaeve.«
Nynaeve wollte ihr folgen, als Elayne zum Korridor vor der Küche eilte, denn Min würde ihnen ein paar klare Antworten geben, aber Siuan packte sie mit eisernem Griff am Arm und hielt sie fest.
Die Siuan Sanche, die vor diesen Aes Sedai demütig das Haupt gebeugt hatte, war nicht mehr. Hier trug niemand die Stola. Sie erhob nicht einmal die Stimme; das hatte sie nicht nötig. Sie fixierte Juilin mit einem Blick, der ihn fast aus der Haut fahren ließ. »Paßt gut auf, welche Fragen Ihr stellt, Diebfänger, sonst schlachtet Ihr euch vielleicht selbst, um auf dem Markt feilgeboten zu werden.« Der Blick aus den kalten blauen Augen erfaßte Birgitte und Marigan. Marigan verzog den Mund, als spüre sie einen schlechten Geschmack, und sogar Birgitte wirkte nervös. »Ihr zwei sucht eine Aufgenommene namens Theodrin und fragt sie nach Schlafplätzen für heute nacht. Diese Kinder sehen aus, als sollten sie längst im Bett liegen. Also, was ist? Bewegt Euch gefälligst!« Bevor die beiden noch einen Schritt getan hatten — und Birgitte war dabei genauso schnell, wenn nicht noch schneller als Marigan —, fuhr sie Nynaeve an: »Und Ihr, ich habe Fragen an Euch! Man hat Euch gesagt, Ihr solltet mir zur Verfügung stehen, und ich schlage vor, Ihr haltet Euch daran, falls Ihr wißt, was gut für Euch ist!«
Es war, als sei sie in einen Wirbelwind geraten. Bevor Nynaeve wußte, wie ihr geschah, scheuchte Siuan sie eine wacklige Treppe mit einem zusammengenagelten Geländer aus ungestrichenen Latten hoch und einen Gang mit unebenem Fußboden entlang in eine winzige Kammer mit zwei engen Stockbetten, die an der Wand befestigt waren. Siuan nahm den einzigen Hocker und bedeutete ihr, sie solle sich auf das untere Bett setzen. Nynaeve entschloß sich allerdings, stehenzubleiben, wenn auch nur, um zu beweisen, daß sie sich nicht herumstoßen ließ. Sonst wies die Kammer nur wenige Einrichtungsgegenstände auf. Auf einem Waschtisch, bei dem man einen Ziegelstein unter ein Bein gelegt hatte, damit er nicht kippte, standen ein angeschlagener Wasserkrug und eine Schüssel. Ein paar Kleider hingen an Haken, und in einer Ecke lag etwas wie eine zusammengerollte Bettunterlage. Sie war ja schon innerhalb eines Tages tief gesunken, aber Siuan war noch viel tiefer gesunken, als sie es sich jemals vorgestellt hatte. Sie glaubte nicht, von dieser Frau zu viele Schwierigkeiten erwarten zu dürfen. Obwohl Siuans Augen immer noch die selben waren.
Siuan schnaubte. »Wie es Euch gefällt, Mädchen. Der Ring. Man muß dazu die Macht nicht einsetzen?«
»Nein. Ihr habt doch gehört, wie ich Sheriam sagte... «
»Jeder kann ihn benützen? Auch eine Frau, die mit der Macht nicht umgehen kann? Auch ein Mann?«
»Möglicherweise auch ein Mann.« Ter'Angreal, die keinen Gebrauch der Macht verlangten, funktionierten gewöhnlich sowohl bei Frauen wie auch bei Männern.
»Eine Frau auf jeden Fall.«
»Dann werdet Ihr mir beibringen, wie man ihn benützt.«
Nynaeve hob eine Augenbraue. Das konnte vielleicht ein Druckmittel sein, um zu bekommen, was sie wollte. Falls nicht, hatte sie noch eines zur Verfügung. Vielleicht. »Wissen sie denn davon, was ihr vorhabt? Sie haben doch nur davon gesprochen, ich solle ihnen zeigen, wie er funktioniert. Von Euch war nie die Rede.«
»Sie wissen es nicht.« Siuan machte keineswegs einen angeschlagenen Eindruck. Sie lächelte sogar, wenn auch nicht gerade freundlich. »Und sie werden es nicht erfahren. Sonst erfahren sie nämlich auch, daß Elayne und Ihr euch als vollwertige Schwestern ausgegeben habt, seit Ihr Tar Valon verlassen habt. Moiraine mag das ja bei Egwene durchgehen lassen. Falls sie es allerdings nicht auch versucht hat, will ich keine Seilschlinge mehr von einem Schifferknoten unterscheiden können. Aber Sheriam und Carlinya und...? Bevor sie mit Eurer Bestrafung fertig sind, werdet Ihr quieken wie ein Ferkel! Lange vorher schon.«
»Das ist lächerlich.« Nynaeve wurde bewußt, daß sie auf der Bettkante saß. Sie erinnerte sich überhaupt nicht daran, daß sie sich hingesetzt hatte. Thom und Juilin würden den Mund halten. Sonst wußte niemand davon. Sie mußte unbedingt mit Elayne sprechen. »Wir haben nichts dergleichen behauptet.«
»Lügt mich nicht an, Mädchen. Falls ich eine Bestätigung brauchte, hat Euer Blick mir die geliefert. Euer Magen flattert ganz ordentlich, oder?«
Allerdings war der ins Flattern gekommen. »Natürlich nicht. Wenn ich Euch etwas beibringe, dann nur, weil ich es will.« Sie würde sich von dieser Frau nicht herumstoßen lassen. Der letzte Rest von Mitleid war wie weggeblasen. »Falls ich es tue, will ich etwas dafür haben. Ich will Euch und Leane untersuchen. Ich will wissen, ob man die Folgen einer Dämpfung rückgängig machen kann.«
»Kann man nicht«, behauptete Siuan entschieden. »Jetzt... «
»Man sollte eigentlich alles heilen können bis auf den Tod.«
»›Sollte‹ heißt nicht ›kann‹, Mädchen. Man hat Leane und mir versprochen, daß man uns in Ruhe läßt. Sprecht mit Faolain oder mit Emara, wenn Ihr wissen wollt, was mit einer geschieht, die uns belästigt. Sie waren nicht die ersten und nicht die schlimmsten, aber sie haben am längsten geweint.«
Ihr anderes Druckmittel. Sie wäre beinahe in Panik geraten und hätte es vergessen. Falls es überhaupt existierte. Ein Blick nur. »Was würde Sheriam sagen, wenn sie wüßte, daß Ihr und Leane keineswegs so böse aufeinander seid, daß Ihr euch gegenseitig die Haare ausreißen möchtet?« Siuan blickte sie nur an. »Sie glauben, Ihr wärt nun gezähmt, ja? Je schneller Ihr auf eine losgeht, die nicht zurückschlagen kann, desto eher werden sie es als Beweis dafür ansehen, wenn ihr schon springt kaum, daß eine Aes Sedai hustet. Reichte es, ein bißchen die Duckmäuser zu spielen, um sie vergessen zu machen, daß Ihr beiden viele Jahre lang Hand in Hand gearbeitet habt? Oder habt Ihr sie davon überzeugen können, daß die Dämpfung alles an Euch verändert habe und nicht bloß Euer Gesicht? Wenn sie herausfinden, daß Ihr hinter ihrem Rücken intrigiert und sie manipuliert, dann werdet Ihr lauter quieken als irgendein Ferkel.« Die andere zuckte mit keiner Wimper. Siuan würde die Beherrschung bestimmt nicht verlieren und irgend etwas entschlüpfen lassen; etwas zugeben. Und doch hatte etwas in diesem kurzen Blick gelegen, den Nynaeve beobachtet hatte, da war sie sicher. »Ich will Euch — und Leane — untersuchen, wann immer ich möchte. Und Logain.« Vielleicht konnte sie auch in seinem Fall einiges feststellen. Männer waren anders, und so wäre es, als betrachte sie ein Problem aus anderem Blickwinkel. Nicht, daß sie ihn heilen würde, und fände sie auch einen Weg dazu. Rands Gebrauch der Macht war notwendig. Sie hatte nicht vor, noch einen Mann auf die Welt loszulassen, der mit der Macht umgehen konnte. »Wenn nicht, könnt Ihr den Ring und Tel'aran'rhiod vergessen.« Was wollte Siuan eigentlich damit erreichen? Wahrscheinlich wollte sie nur wieder ein Gefühl genießen, beinahe wie eine Aes Sedai zu sein. Energisch unterdrückte Nynaeve das gerade wieder aufgetauchte Mitleid. »Und wenn Ihr weiterhin behauptet, wir hätten uns als Aes Sedai ausgegeben, werde ich keine andere Wahl haben und ihnen von Euch und Leane berichten. Man mag ja Elayne und mir solange die Hölle heiß machen, bis die Wahrheit ans Licht kommt, aber sie wird, und diese Wahrheit wird zur Folge haben, daß Ihr länger weint als Faolain und Emara zusammen.«