»Halt den Mund und hör zu. Versuch nicht länger, davonzulaufen.«
»Ach, seng mich, wenn ich das tue! Das ist nicht mein Spiel, und ich werde nicht...«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst den Mund halten!« Rand drückte mit steifem Finger den Fuchskopf an Mats Brust. »Ich weiß, woher du das hast. Ich war dabei, erinnerst du dich noch daran? Ich habe das Seil durchschnitten, an dem du hingst. Ich weiß auch nicht, was dir dort in den Kopf untergeschoben wurde, aber was auch immer, ich benötige es jedenfalls. Die Clanhäuptlinge verstehen etwas von Kriegführung, aber irgendwie verstehst du auch etwas davon und vermutlich einiges mehr. Und das ist wichtig für mich! Also wirst du folgendes unternehmen, und zwar zusammen mit der Bande der Roten Hand...«
»Seid morgen vorsichtig«, sagte Moiraine.
Egwene blieb an der Tür zu ihrem Zimmer stehen. »Natürlich werden wir vorsichtig sein.« Ihr Magen überschlug sich fast, doch sie beherrschte eisern ihre Stimme. »Wir wissen, wie gefährlich es wird, einer der Verlorenen gegenüberzustehen.« Aviendhas Gesichtsausdruck nach konnte es ein Gespräch über ihr Abendessen sein. Aber andererseits hatte sie niemals vor irgend etwas Angst.
»Tatsächlich?« murmelte Moiraine. »Laßt trotzdem alle Vorsicht walten, ob ihr nun glaubt, eine der Verlorenen befinde sich in der Nähe, oder nicht. Rand braucht Euch beide in den kommenden Tagen. Ihr werdet gut mit seinen Zornesausbrüchen fertig — wenn ich auch sagen darf, daß Eure Methoden etwas ungewöhnlich sind. Er wird Menschen brauchen, die durch seinen Zorn nicht vertrieben oder eingeschüchtert werden können und die ihm sagen, was er hören muß, und nicht nur das, was er ihrer Meinung nach hören will.«
»Das tut Ihr doch bereits, Moiraine«, erwiderte Egwene.
»Sicher. Und doch wird er Euch brauchen. Ruht Euch gut aus. Morgen wird ein ... schwerer Tag für uns alle.« Damit glitt sie den Korridor entlang, durch Dämmerlicht, durch den schwachen Schein einer Lampe, dann wieder ins Dämmerlicht hinein. In diesen düsteren Räumen brach bereits der Abend an und das Öl war knapp.
»Bleibst du noch eine Weile bei mir, Aviendha?« bat Egwene. »Mir ist mehr nach Unterhaltung zumute als nach Essen.«
»Ich muß Amys noch mitteilen, was ich morgen zu tun versprochen habe. Und ich muß in Rand al'Thors Schlafgemach sein, wenn er sich dorthin begibt.«
»Elayne kann sich wirklich nicht beklagen, daß du Rand nicht sorgfältig genug für sie gehütet hättest. Hast du wirklich Lady Berewin am Haar durch den Flur geschleift?«
Aviendhas Wangen röteten sich leicht. »Glaubst du, diese Aes Sedai in — Salidar? — werden ihn unterstützen?«
»Sei vorsichtig mit diesem Namen, Aviendha. Wir können Rand nicht gestatten, unvorbereitet auf sie zu stoßen.« So, wie er sich im Augenblick verhielt, war es wahrscheinlicher, daß sie ihn einer Dämpfung unterzogen oder ihm zumindest dreizehn eigene Schwestern auf den Hals schickten, anstatt ihm zu helfen. Sie würde sich in Tel'aran'rhiod zwischen die Gruppen stellen müssen, sie und Nynaeve und Elayne, und darauf hoffen, daß diese Aes Sedai sich bereits zu sehr für Rand eingesetzt hatten, um noch einen Rückzieher machen zu können, wenn sie entdeckten, wie nahe am Rande des Wahnsinns er sich befand.
»Ich werde vorsichtig sein. Schlaf gut. Und iß heute abend noch kräftig. Am Morgen dagegen solltest du nichts mehr essen. Es ist nicht gut, den Tanz der Speere mit vollem Magen zu beginnen.«
Egwene blickte ihr hinterher, wie sie davonschritt, und dann drückte sie mit beiden Händen ihre Magengegend. Sie hatte nicht das Gefühl, als würde sie heute abend oder morgen früh noch etwas essen können. Rahvin. Und möglicherweise Lanfear oder eine der anderen. Nynaeve hatte sich Moghedien gestellt und sie bezwungen. Aber Nynaeve war stärker als sie oder Aviendha, falls sie gerade die Macht benutzen konnte. Vielleicht war ja doch niemand sonst dabei. Rand hatte gesagt, die Verlorenen trauten einander keineswegs. Sie wünschte fast, er habe diesmal nicht recht oder er sei sich wenigstens nicht so sicher. Es ängstigte sie, wenn sie glaubte, einen anderen Mann aus seinen Augen blicken zu sehen und die Worte eines anderen aus seinem Mund zu hören. Es sollte sie nicht so erschrecken; schließlich wurde jedermann wiedergeboren, wenn sich das Rad weiterdrehte. Aber jedermann war eben nicht der Wiedergeborene Drache. Moiraine wollte nicht darüber sprechen. Was würde Rand tun, falls sich Lanfear dort befand? Lanfear hatte Lews Therin Telamon geliebt, doch was hatte der Drache für sie empfunden? Wieviel an Rand war überhaupt noch Rand?
»Auf diese Weise wirst du dich nur immer mehr in Ängste hineinsteigern«, sagte sie sich energisch. »Du bist doch kein Kind mehr. Benimm dich wie eine Frau!«
Als eine Dienerin ihr das Abendessen brachte —Brechbohnen und Kartoffeln und dazu frisch gebackenes Brot —, zwang sie sich zum Essen. Es schmeckte wie Asche.
Mat schritt durch die schlecht beleuchteten Gänge des Palastes und riß schließlich die Tür zu den Gemächern auf, die man dem jungen Helden der Schlacht gegen die Shaido zugedacht hatte. Nicht, daß er hier viel Zeit verbracht hätte. Er kam nur selten her. Die Diener hatten zwei der Lampen auf den hohen Ständern angezündet. Held! Er war kein Held! Was bekam denn ein Held? Eine Aes Sedai tätschelte einem den Kopf und schickte ihn dann wie einen treuen Hund wieder auf die Jagd. Eine adlige Dame ließ sich dazu herab, ihn mit einem Kuß zu belohnen. Sie würde aber auch Blumen auf sein Grab legen. Er tigerte in seinem Vorzimmer auf und ab. Ausnahmsweise einmal widmete er dem kostbaren Illianer Teppich mit dem Blumenmuster oder den vergoldeten oder mit Elfenbein eingelegten Stühlen und Kommoden und Tischen keinen Gedanken.
Die stürmische Besprechung mit Rand hatte sich bis zum Sonnenuntergang hingezogen, wobei er auswich, sich weigerte, doch Rand blieb stur und hartnäckig wie Falkenflügel nach dem mißlungenen Angriff am Cole-Paß. Was sollte er denn tun? Wenn er wieder ausritt, würden ihm Talmanes und Nalesean unter Garantie mit so vielen Männern folgen, wie sie in den Sattel bekamen. Sie erwarteten von ihm, daß er einen neuen Kampf aufspürte, in dem sie eingesetzt würden. Und genau das würde wahrscheinlich auch passieren. Dieses Wissen jagte ihm einen Schauder den Rücken hinab. So sehr er es haßte, so etwas zugeben zu müssen, aber die Aes Sedai hatte recht. Er wurde von Kämpfen angezogen oder sie von ihm. Niemand hätte sich mehr als er bemühen können, auf der anderen Seite des Alguenya jede Auseinandersetzung zu vermeiden. Selbst Talmanes war das aufgefallen. Doch als sie sich zum zweitenmal vorsichtig vor einer Truppe Andoraner zurückgezogen hatten, um nicht bemerkt zu werden, liefen sie prompt einer anderen in die Arme und hatten keine andere Wahl mehr, als zu kämpfen. Und jedesmal spürte er, wie in seinem Kopf die Würfel rollten. Mittlerweile konnte das beinahe schon als Warnung dienen, daß hinter dem nächsten Hügel ein neuer Kampf auf ihn wartete.
Unten im Hafen neben den Getreidekähnen fand sich fast immer ein Schiff. Es wäre doch wohl mehr als unwahrscheinlich, auf einem Schiff in der Mitte eines Flusses noch kämpfen zu müssen. Allerdings hatten die Andoraner das eine Ufer des Alguenya bis weit jenseits der Stadt besetzt. So, wie sich sein Glück in letzter Zeit entwickelt hatte, würde das Schiff vermutlich am westlichen Ufer direkt vor der Nase des halben andoranischen Heeres auf Grund laufen.
So blieb nur übrig, das zu tun, was Rand wollte. Das wurde ihm immer klarer.
»Guten Morgen, Hochlord Weiramon und all ihr anderen Hochlords und Ladies. Ich bin ein Spieler, ein Bauernjunge, und ich bin hier, um das Kommando Eures verdammten Heeres zu übernehmen! Der verfluchte Wiedergeborene Drache wird zu uns kommen, sobald er sich um eine idiotische kleine Angelegenheit gekümmert hat!«
Er schnappte sich den Speer mit dem schwarzen Schaft aus einer Ecke und schleuderte ihn der Länge nach durch den Raum. Er durchschlug einen Wandbehang mit einer Jagdszene und krachte wuchtig und dumpf gegen die Steinwand dahinter. Dann fiel er zu Boden. Die Jäger auf dem Gobelin hatte er ganz sauber entzweigeschnitten. Fluchend eilte er hin, um ihn wieder aufzuheben. Die zwei Fuß lange Schwertklinge war weder gesprungen, noch wies sie auch nur eine Scharte auf. Natürlich nicht. Sie war ja ein Werk von Aes Sedai.