Er tastete nach den Raben auf der Klinge. »Werde ich jemals ganz von allen Werken der Aes Sedai befreit sein?«
»Wie war das?« fragte Melindhra von der Tür her.
Er musterte sie, während er den Speer an die Wand lehnte, und zur Abwechslung einmal war es weder ihr wie gesponnenes Gold wirkendes Haar, noch die klaren, blauen Augen oder der feste Körper, an die er dabei dachte. Wie es schien, wanderte jeder Aiel früher oder später zum Fluß hinunter und blickte schweigend auf diese große Wasserfläche. Doch Melindhra ging so ungefähr jeden Tag hin. »Hat Kadere bereits Schiffe aufgetrieben?« Kadere würde wohl kaum auf Getreidekähnen nach Tar Valon fahren.
»Die Wagen des Händlers stehen noch immer da. Ich weiß nichts von ... Schiffen.« Sie sprach dieses für sie fremdartige Wort ungeschickt aus. »Warum willst du das wissen?«
»Ich gehe eine Zeitlang fort. Im Auftrag Rands«, fügte er hastig hinzu. Ihr Gesicht wirkte allzu unbewegt. »Ich würde dich mitnehmen, wenn es ginge, aber du verläßt ja wohl die Töchter des Speers nicht.« Ein Schiff, oder sein eigenes Pferd? Und wohin? Das war die Frage. Er konnte Tear auf einem schnellen Flußschiff eher erreichen als auf Pips. Falls er wirklich ein solcher Narr war und sich dafür entschied. Falls er überhaupt eine Wahl hatte.
Melindhras Mundpartie spannte sich kurz an. Zu seiner Überraschung allerdings nicht, weil er weggehen würde. »Also schlüpfst du zurück in den Schatten Rand al'Thors. Du hast soviel Ehre für dich selbst gewonnen, sowohl unter den Aiel wie unter den Feuchtländern. Deine Ehre, und nicht die des Car'a'carn, die auf dich zurückfiele.«
»Er kann seine Ehre behalten und nach Caemlyn oder auch zum Krater des Verderbens mitschleppen, was mich betrifft. Mach dir nur keine Sorgen. Ich werde eine ganze Menge Ehre gewinnen. Ich werde dir schreiben und berichten. Von Tear aus.« Tear? Wenn er sich dafür entschied, würde er Rand oder den Aes Sedai niemals entkommen.
»Er geht nach Caemlyn?«
Mat unterdrückte ein Stöhnen. Er hätte doch darüber absolut nichts sagen dürfen. Wie er sich auch ansonsten entschied, wenigstens das konnte er zurechtbiegen. »Nur einfach der erste Name, der mir einfiel. Wegen dieser Andoraner im Süden, schätze ich. Ich habe keine Ahnung, wohin er... «
Es kam ohne Vorwarnung. Im einen Augenblick stand sie einfach da, und im nächsten traf ihr Fuß ihn in die Magengrube. Er schnappte nach Luft und krümmte sich vor Schmerz. Mit herausquellenden Augen quälte er sich ab, versuchte, auf den Beinen zu bleiben, sich aufzurichten, klar zu denken. Warum? Sie wirbelte nach rückwärts wie eine Tänzerin und knallte ihm aus der Bewegung heraus den anderen Fuß an die Seite seines Kopfes, so daß er zurücktaumelte. Ohne innezuhalten sprang sie fast senkrecht empor und trat aus. Die weiche Sohle ihres Stiefels traf ihn voll ins Gesicht.
Als seine Augen wieder funktionierten, lag er den halben Raum von ihr entfernt auf dem Rücken am Fußboden. Er spürte, wie Blut über sein Gesicht rann. Sein Kopf schien mit Wolle ausgestopft, und der Raum schien zu schwanken. In dem Moment sah er, wie sie ein Messer aus ihrer Gürteltasche zog, eine schmale Klinge, nicht viel länger als ihre Hand, die im Schein der Lampen glänzte. Mit einer schnellen Bewegung wickelte sie die Schufa um ihren Kopf und hakte den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht ein.
Halb betäubt bewegte er sich rein instinktiv und ohne zu denken. Die Klinge rutschte aus seinem Ärmel und verließ seine Hand, als schwimme sie durch dicken Brei. Erst dann wurde ihm bewußt, was er getan hatte, und er streckte die Hand verzweifelt aus, um sie abzufangen.
Der Griff ragte zwischen ihren Brüsten hervor. Sie sackte auf die Knie nieder und kippte dann nach hinten um.
Mat schob sich mühsam hoch und kniete mit aufgestützten Händen im Raum. Er hätte nicht aufstehen können, und hinge auch sein Leben davon ab, aber er kroch zu ihr hinüber und murmelte verstört: »Warum? Warum?«
Er riß ihren Schleier weg, und diese klaren blauen Augen richteten sich auf ihn. Sie lächelte sogar. Er sah den Messergriff nicht an. Den Griff seines Messers. Er wußte genau, wo sich in diesem Körper das Herz befand. »Warum, Melindhra?«
»Mir haben deine hübschen Augen immer so gefallen«, hauchte sie so schwach, daß er sich anstrengen mußte, um sie zu verstehen.
»Warum?«
»Manche Eide sind eben wichtiger als andere, Mat Cauthon.« Das Messer mit der schmalen Klinge schoß nach oben. Sie hatte alle Kraft, die sie noch besaß, in den Stoß gelegt. Die Messerspitze schlug den metallenen Fuchskopf hart gegen seine Brust. Eigentlich hätte das silberne Medaillon keine Klinge aufzuhalten vermocht, doch der Stoßwinkel stimmte nicht ganz, und irgendein verborgener Schwachpunkt im Stahl ließ die Klinge gerade in dem Augenblick abbrechen, als er ihr Handgelenk zu fassen bekam. »Du hast wirklich das Glück des Großen Herrn der Dunkelheit.«
»Warum?« schrie er sie an. »Verdammt noch mal, warum?« Er wußte, er würde keine Antwort erhalten.
Ihr Mund blieb offen stehen, als wolle sie noch etwas sagen, doch ihre Augen wurden bereits glasig.
Er wollte schon den Schleier wieder hochziehen und ihr Gesicht mit den starrenden Augen bedecken, doch dann ließ er die Hand sinken. Er hatte Männer getötet und Trollocs, aber noch nie eine Frau. Niemals zuvor eine Frau, bis jetzt. Frauen waren froh, wenn er in ihr Leben trat. Das war keine Angeberei. Die Frauen lächelten ihn an; sogar wenn er sie verließ, lächelten sie, als wollten sie ihn gern wieder willkommen heißen. Das war alles, was er sich von einer Frau wünschte: ein Lächeln, einen Tanz, einen Kuß, und warme, liebevolle Erinnerungen.
Ihm wurde bewußt, daß in seinen Gedanken ein wildes Durcheinander herrschte. Er zog den Messergriff mit dem Stumpf der Klinge aus Melindhras Hand —Jade auf Gold, mit kleinen goldenen Bienen eingelegt — und schleuderte ihn in den großen Marmorkamin, in der Hoffnung, er möge zerspringen. Er hätte am liebsten geweint, geheult. Ich bringe doch keine Frauen um! Ich küsse sie, aber ich... Er mußte klar denken. Warum? Sicher nicht, weil er wegging. Darauf hatte sie kaum reagiert. Außerdem glaubte sie, er sei auf Ruhm und Ehre aus, und das hatte sie immer gutgeheißen. Etwas, das sie gesagt hatte, nagte an seinem Verstand. Dann kam die Erinnerung mit einem Schaudern. Das Glück des Großen Herrn der Dunkelheit. Er hatte das so oft anders vernommen: das Glück des Dunklen Königs. Hatte sie zu den Schattenfreunden gehört? War das eine offene Frage oder bereits Gewißheit? Er wünschte, dieser Gedanke würde es ihm leichter machen, das Geschehene zu verkraften. Er würde ihr Gesicht mit in sein Grab nehmen.
Tear. Er hatte ihr ja praktisch ins Gesicht gesagt, er gehe nach Tear. Der Dolch. Goldene Bienen in Jade. Er hätte, ohne hinzublicken, wetten können, daß es neun waren. Neun goldene Bienen auf grünem Feld. Das Wappen Illians. Wo Sammael herrschte. Konnte es sein, daß Sammael sich vor ihm fürchtete? Wie konnte Sammael überhaupt von ihm wissen? Es war erst ein paar Stunden her, daß Rand ihn gebeten hatte — ihm befohlen hatte —, sich dorthin zu begeben, und er war sich ja noch nicht einmal sicher, was er machen sollte. Vielleicht wollte Sammael das Risiko nicht eingehen? Richtig. Einer der Verlorenen fürchtete sich vor einem Spieler, wieviel militärisches Wissen anderer Männer man ihm auch in den Kopf gepackt haben mochte? Das war doch lächerlich.
Es lief alles auf dasselbe hinaus. Er konnte glauben, Melindhra habe nicht zu den Schattenfreunden gehört, daß sie sich aus einer Laune heraus entschlossen hatte, ihn zu töten, daß keine Verbindung bestand zwischen einem Jadegriff mit eingelegten goldenen Bienen und seiner möglichen Reise nach Tear, um ein Heer gegen Illian zu führen. Er konnte das glauben, falls er ein kompletter Idiot war. Besser, die Vorsicht ein wenig zu übertreiben, hatte er sich immer gesagt. Er war einem der Verlorenen aufgefallen. Nun stand er sicher nicht mehr in Rands Schatten.