»Ich wollte nur sehen, ob der Lord Drache immer noch aus Fleisch und Blut besteht wie wir anderen Sterblichen.«
»Allerdings«, sagte er undeutlich und griff nach Saidin — all diese Süße, all dieser Schmutz —, und zwar gerade lange genug, um die Macht kurz einzusetzen.
Sie riß die Augen auf, zuckte aber nicht zusammen. Sie sah ihn nur an, als sei gar nichts geschehen. Trotzdem — als sie durch den Vorraum schritten, rieb sie sich heimlich den Po, weil sie glaubte, er blicke weg. Also bestand auch sie aus gewöhnlichem Fleisch und Blut. Seng mich. Ich glaubte doch, ich hätte ihr Manieren beigebracht.
Er zog die Tür auf, trat hinaus und stand staunend da. Mat stützte sich auf seinen eigenartigen Speer. Die breite Krempe seines Huts hatte er weit herabgezogen. Unweit von ihm stand Asmodean. Doch das war es nicht, was Rand so verblüffte. Es waren keine Töchter des Speers zu sehen. Er hätte ja wissen müssen, daß etwas nicht stimmte, als Asmodean unangekündigt hereingekommen war. Aviendha blickte sich erstaunt um, als glaube sie, die anderen hätten sich hinter den Wandbehängen versteckt.
»Melindhra hat letzte Nacht versucht, mich umzubringen«, sagte Mat, und Rand hörte auf, sich über die abwesenden Töchter Gedanken zu machen. »Eine Minute zuvor unterhielten wir uns noch, und in der nächsten tat sie ihr Bestes, mir den Kopf abzutreten.«
Mat berichtete in kurzen, präzisen Sätzen. Von dem Dolch mit den goldenen Bienen. Seine Folgerungen daraus. Er schloß die Augen, als er erzählte, wie alles ausgegangen sei — ein knappes, nüchternes: »Ich habe sie getötet« —, und dann öffnete er sie schnell wieder, als habe er hinter den Augenlidern Dinge gesehen, die er nicht sehen wollte.
»Es tut mir so leid, daß du das tun mußtest«, sagte Rand leise, worauf Mat niedergeschlagen die Achseln zuckte.
»Besser sie als ich, schätze ich. Sie gehörte zu den Schattenfreunden.« Es klang bei ihm nicht, als sei das ein großer Unterschied.
»Ich werde Sammael zur Strecke bringen. Sobald ich darauf vorbereitet bin.«
»Und wie viele sind dann noch übrig?«
»Die Verlorenen befinden sich nicht hier«, fauchte Aviendha. »Genausowenig wie die Töchter des Speers. Wo sind sie? Was hast du getan, Rand al'Thor?«
»Ich? Als ich gestern abend ins Bett ging, standen zwanzig von ihnen vor meiner Tür. Seither habe ich keine mehr gesehen.«
»Vielleicht liegt es an dem, was Mat...«, begann Asmodean, aber er schwieg, als ihn Mat anblickte, soviel Anspannung und Schmerz und Aggressivität lagen in diesem Blick.
»Seid keine Narren«, sagte Aviendha mit fester Stimme. »Die Far Dareis Mai würden daraus keinesfalls ein Toh gegen Mat Cauthon machen. Sie versuchte, ihn zu töten, und er tötete sie. Selbst Nächstschwestern würden in diesem Falle nichts unternehmen, falls sie welche gehabt hätte. Und niemand würde ein Toh gegen Rand al'Thor in Anspruch nehmen für das, was ein anderer getan hat, es sei denn, er hätte es befohlen. Du hast aber etwas getan, Rand al'Thor, etwas Großes und Schlimmes, sonst wären sie jetzt hier.«
»Ich habe überhaupt nichts getan«, erwiderte er in scharfem Ton. »Und ich habe auch nicht vor, hier stehenzubleiben und zu diskutieren. Bist du für den Ritt nach Süden fertig angezogen, Mat?«
Mat steckte eine Hand in seine Rocktasche und tastete nach etwas. Für gewöhnlich bewahrte er seine Würfel und den Würfelbecher dort auf. »Caemlyn. Ich habe es satt, immer wieder hinterrücks überfallen zu werden. Zur Abwechslung möchte ich mich einmal an jemanden anders von hinten anschleichen. Ich hoffe nur, ich ernte ein Lob dafür und keine verdammten Blumen«, fügte er noch hinzu und verzog das Gesicht.
Rand fragte nicht, was er damit meine. Ein anderer Ta'veren. Zwei gemeinsam könnten vielleicht sogar den Zufall beeinflussen. Keine Ahnung, auf welche Weise und ob überhaupt, aber... »Also scheint es, daß wir noch ein wenig länger zusammenbleiben.« Mat sah aus, als habe er sich in sein Schicksal ergeben.
Kaum hatten sie sich in dem mit Wandbehängen geschmückten Korridor in Bewegung gesetzt, tauchten auch schon Moiraine und Egwene auf, die nebeneinander herschritten, als stehe ihnen an diesem Tag höchstens ein Spaziergang in einem der Gärten bevor.
Egwene, mit kühlem Blick, gelassen, den goldenen Ring mit der Großen Schlange am Finger, hätte wirklich eine Aes Sedai sein können, trotz ihrer Aielkleidung, des Schals und des zusammengerollten Tuchs um ihre Stirn, Moiraine jedoch... Goldfäden glitzerten im Lampenschein, eingewebt in die blauschimmernde Seide von Moiraines langem Kleid. Der kleine blaue Edelstein auf ihrer Stirn, dessen Goldkettchen in ihren schwarzen Locken befestigt war, glitzerte genauso strahlend wie die großen, mit Gold eingefaßten Saphire, die sie um den Hals trug. Kaum die richtige Kleidung für das, was sie vorhatten, aber Rand in seinem prunkvollen roten Mantel konnte sich wohl auch nicht darüber beklagen.
Vielleicht lag es daran, daß sie sich hier aufhielt, wo das Haus Damodred einst den Sonnenthron innegehabt hatte, jedenfalls wirkte Moiraines elegante Haltung noch edler, als er sie je erlebt hatte. Nicht einmal die überraschende Anwesenheit ›Jasin Nataels‹ störte diese königliche Würde im geringsten, aber es überraschte dann doch, als sie Mat ein warmes Lächeln schenkte. »Also kommt Ihr auch mit, Mat. Lernt, dem Muster zu vertrauen. Vergeudet Eure Leben nicht, indem Ihr versucht, zu ändern, was nicht zu ändern ist.« An Mats Gesicht konnte man ablesen, daß er mittlerweile bereute, überhaupt hierzusein, aber die Aes Sedai wandte sich ungerührt von ihm ab. »Die sind für Euch, Rand.«
»Weitere Briefe?« fragte er. Auf dem einen stand sein Name in einer eleganten Handschrift, die er augenblicklich erkannte. »Von Euch, Moiraine?« Auf dem anderen stand Thom Merrilins Name. Beide hatte sie mit blauem Wachs versiegelt, offensichtlich mit ihrem Großen Schlangenring, denn aufgeprägt war das Bild einer Schlange, die in den eigenen Schwanz biß. »Warum schreibt Ihr mir einen Brief? Und noch dazu versiegelt? Ihr seid doch nie davor zurückgeschreckt, mir ins Gesicht zu sagen, was immer Ihr mir sagen wolltet. Und falls ich das je vergesse, hat mich Aviendha daran erinnert, daß auch ich nur aus Fleisch und Blut bestehe.«
»Ihr habt Euch sehr verändert, seit ich Euch zum erstenmal als Junge vor der Weinquellenschenke sah.« Ihre Stimme klang wie das leise Klingeln kleiner Silberglöckchen. »Ihr seid kaum noch der selbe. Ich hoffe nur, Ihr habt Euch in genügendem Maße verändert.«
Egwene murmelte leise etwas vor sich hin. Rand glaubte zu verstehen: »Ich hoffe, du hast dich nicht zu stark verändert.« Sie blickte mit gerunzelter Stirn die Briefe an, als frage auch sie sich, was darin stehen mochte. Genau wie Aviendha.
Moiraine fuhr etwas gelöster, wenn auch knapp, fort: »Siegel bewahren die Privatsphäre. In diesem hier stehen Dinge, von denen ich mir wünsche, daß Ihr über sie nachdenkt. Nicht jetzt gleich, sondern wann immer Euch Zeit zum Nachdenken bleibt. Was den Brief an Thom betrifft, wüßte ich keine besseren Hände als Eure, in die ich ihn legen könnte. Gebt ihn ihm, wenn Ihr ihn wiederseht. So, und nun gibt es etwas im Hafen, das Ihr sehen müßt.«
»Im Hafen?« fragte Rand nach. »Moiraine, ausgerechnet an diesem einen Morgen habe ich keine Zeit, um... «
Doch sie schritt bereits den Korridor entlang, als sei sie ganz sicher, daß er ihr folgen werde. »Ich habe Pferde bereitstellen lassen. Auch eins für Euch, Mat, für den Fall der Fälle.« Egwene zögerte nur einen Moment, und dann folgte sie ihr.
Rand öffnete den Mund, um Moiraine zurückzurufen. Sie hatte geschworen, ihm zu gehorchen. Was sie ihm auch zeigen wollte, es konnte doch wohl warten.