Als seine Knie auf dem Boden aufschlugen, fand er seine Sprache wieder. »Große Herrin«, brachte er heiser heraus, »wie kann ich Euch dienen?«
Lanfear hätte ihrem Blick nach genauso ein Insekt ansehen können, das sie vielleicht mit ihrem Pantoffel zertreten würde, vielleicht auch nicht. »Indem Ihr euren Gehorsam mir gegenüber beweist. Ich war zu beschäftigt, um selbst Rand al'Thor zu überwachen. Sagt mir, was er inzwischen getan hat, abgesehen von der Eroberung Cairhiens, und was er zu unternehmen gedenkt.«
»Das ist schwierig, Große Herrin. Einer wie ich kommt kaum an einen wie ihn heran.« Ein Insekt, sagten ihm diese kühlen Augen, das so lange überleben wird, wie es nützlich ist. Kadere zermarterte sein Hirn, damit ihm alles einfiel, was er gesehen, gehört oder sich vorgestellt hatte. »Er schickt die Aiel in großer Anzahl nach Süden, Große Herrin, aber ich weiß nicht, aus welchem Grund. Die Tairener und die Leute aus Cairhien scheinen das gar nicht zu bemerken, aber ich glaube, sie können sowieso einen Aiel nicht vom anderen unterscheiden.« Er konnte es auch nicht. Er wagte nicht, sie zu belügen, aber wenn sie ihn für nützlicher hielt, als er tatsächlich war... »Er hat irgendeine Art von Schule gegründet in einem städtischen Herrenhaus, von dessen Besitzerfamilie niemand überlebt hat... « Zuerst konnte er ihr nicht anmerken, ob ihr gefiel, was er zu berichten hatte, aber je länger er redete, desto düsterer wurde ihre Miene.
»Was wolltet Ihr mir denn nun zeigen, Moiraine?« fragte Rand ungeduldig, während er Jeade'ens Zügel an einem Rad des letzten Wagens in der Reihe festband.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Rand des Wagens spähen zu können. Oben standen zwei Fässer, die ihm bekannt vorkamen. Wenn er sich nicht irrte, enthielten sie zwei Cuendillar-Siegel, zum Schutz in Wolle verpackt, da sie nun nicht mehr unzerbrechlich waren. Hier spürte er die Verderbnis des Dunklen Königs besonders deutlich. Wie der Gestank nach etwas, das im Verborgenen verfaulte, so schien es von den Fässern herüberzuwehen.
»Hier wird es in Sicherheit sein«, murmelte Moiraine.
Sie hob graziös ihren Rock an und begann, die Reihe der Wagen entlangzuschreiten. Lan folgte ihr auf den Fersen wie ein halb gezähmter Wolf. Der Umhang auf seinem Rücken zeigte ein verwirrendes Spiel von Farben und — Nichts, Leere.
Rand starrte ihr aufgebracht hinterher. »Hat sie dir gesagt, worum es geht, Egwene?«
»Nur, daß du etwas sehen müßtest. Und daß du ohnehin hierherkommen würdest.«
»Du solltest einer Aes Sedai vertrauen«, sagte Aviendha, doch in ihre ansonsten ruhige Stimme schlich sich eine Andeutung von Zweifel ein. Mat schnaubte.
»Na, dann werde ich das jetzt herausfinden. Natael, geht und richtet Bael aus, ich werde in einer...«
Am anderen Ende der Reihe explodierte die Seitenwand von Kaderes Wohnwagen; umherfliegende Trümmerteile mähten Aiel wie Stadtbewohner nieder. Rand wußte Bescheid; die Gänsehaut benötigte er nicht mehr, um Klarheit zu gewinnen. Er rannte hinter Moiraine und Lan her, hin zum Wohnwagen. Der Ablauf der Zeit schien sich zu verlangsamen. Alles geschah zur gleichen Zeit, als sei die Luft ein zäher Brei, der jeden Augenblick festzuhalten versuchte.
Lanfear trat hinaus in die betäubte Stille, die selbst das Stöhnen und die Schreie der Verwundeten zu ersticken schien. In ihrer Hand hielt sie etwas Schlaffes, Bleiches, rot verschmiertes, das sie hinter sich her und unsichtbare Stufen hinabschleifte. Ihr Gesicht war wie eine aus Eis gehauene Maske. »Er hat es mir erzählt, Lews Therin!« Sie schrie diese Worte fast und schleuderte das bleiche Ding in die Luft. Ein Windhauch erfaßte es und blies es einen Moment lang zu einer blutigen, durchscheinenden Skulptur Hadnan Kaderes auf: seine Haut, in einem Stück abgezogen. Die Gestalt fiel in sich zusammen und klatschte auf den Boden. Lanfears Stimme wurde schriller, und sie kreischte: »Du hast dich von einer anderen Frau berühren lassen! Nicht zum erstenmal!«
Die Augenblicke klebten aneinander, und alles geschah gleichzeitig.
Bevor Lanfear noch auf den Pflastersteinen des Kais stand, raffte Moiraine den Rock und begann, geradewegs auf sie zuzulaufen. So schnell sie aber war, Lan war noch schneller. Er achtete nicht auf ihren Ruf: »Nein, Lan!« Sein Schwert fuhr aus der Scheide, mit langen Schritten schob er sich vor sie, und der farbverändernde Umhang flatterte hinter ihm, als er angriff. Plötzlich schien er gegen eine unsichtbare Mauer zu rennen, prallte zurück und versuchte taumelnd, wieder anzugreifen. Ein Schritt, und dann war es, als wische ihn eine riesige Hand beiseite. Er flog zehn Schritt weit durch die Luft und krachte auf die Pflastersteine.
Noch während er durch die Luft flog, schob sich Moiraine ruckartig, die Füße über den Boden schleifend, trotz der unsichtbaren Barriere voran, bis sie schließlich Auge in Auge vor Lanfear stand. Doch nur für einen kurzen Moment. Die Verlorene blickte sie erstaunt an, als frage sie sich, was ihr da in den Weg gekommen sei, und dann wurde Moiraine so hart zur Seite geschleudert, daß sie sich mehrmals überschlug und unter einem der Wagen verschwand.
Der ganze Kai war in Aufruhr. Es waren erst wenige Augenblicke vergangen, seit Kaderes Wohnwagen explodiert war, doch nur ein Blinder hätte nicht bemerkt, daß die Frau in Weiß mit Hilfe der Einen Macht angriff. Überall im Hafen blitzten die Schneiden der Äxte auf, Taue wurden durchschlagen, um die Lastkähne loszumachen. Ihre Besatzungen stocherten verzweifelt mit langen Stangen nach den Mauern, um ihre Schiffe abzustoßen und auf das offene Wasser hinauszuschieben, damit sie fliehen konnten. Schauerleute mit nackten Oberkörpern und dunkelgekleidete Geschäftsleute aus der Stadt versuchten, schnell noch an Bord zu springen. In der anderen Richtung drängten sich Männer wie Frauen schreiend vor der Mauer und kämpften darum, sich durch die Tore in die Stadt zwängen zu können. Und mitten drin verschleierten sich in den Cadin'sor gekleidete Gestalten, um sich dann mit Speeren oder Messern oder bloßen Händen auf Lanfear zu stürzen. Niemand zweifelte daran, daß der Angriff von ihr ausgegangen war und daß sie die Macht dazu eingesetzt hatte. Trotzdem rannten sie, um den Tanz der Speere zu tanzen.
Feuerwellen überrollten sie. Feuerpfeile durchbohrten jene, die trotz brennender Kleidung weiterliefen. Es war nicht so, daß Lanfear bewußt gegen sie kämpfte oder sie auch nur beachtete. Sie hätte genausogut Stechmücken oder Beißmichs verscheuchen können. Menschen brannten, Fliehende genauso wie diejenigen, die noch zu kämpfen versuchten. Sie ging auf Rand zu, als existiere nichts anderes auf der Welt.
Nur Herzschläge.
Sie hatte drei Schritte getan, als Rand nach der männlichen Hälfte der Wahren Quelle griff, schmelzender Stahl und stahlzerreißendes Eis, süßer Honig und Jauche zugleich. Tief drinnen im Nichts erschien dieser Kampf ums eigene Überleben fern und der Kampf direkt vor seiner Nase nicht weniger. Als Moiraine unter dem Wagen verschwand, verwob er die ersten Stränge der Macht, entzog Lanfears Feuern die Hitze und lenkte sie in den Fluß. Flammen, die noch Augenblicke zuvor menschliche Gestalten eingeschlossen hatten, waren plötzlich verschwunden. Im gleichen Moment verwob er die Stränge wieder, und eine milchig wirkende graue Kuppel entstand, ein langgestrecktes Oval, das sich über ihn und Lanfear und die meisten der Wagen legte, eine fast durchsichtige Mauer, die alles ausschloß, was sich nicht schon zuvor darinnen befunden hatte. Selbst in dem Augenblick, da er die Stränge abnabelte, war er sich nicht sicher, was es eigentlich war und woher es kam —vielleicht aus Lews Therins Gedächtnis. Doch Lanfears Feuerströme prallten davon ab und verloschen. Draußen konnte er verschwommen Menschen wahrnehmen. Zu viele lagen zuckend und um sich schlagend am Boden. Er hatte wohl die Flammen besiegt, doch das verbrannte Fleisch blieb; der Gestank hing noch immer in der Luft. Aber wenigstens würden nicht noch mehr Menschen dem Feuer zum Opfer fallen. Auch innerhalb der Mauer lagen Körper wie kleine Haufen verbrannter Kleidung. Ein paar rührten sich noch schwach, stöhnten. Ihr war das gleich; ihre Flammen erloschen. Die Mücken waren erschlagen, und sie würdigte sie keines Blickes mehr.