Herzschläge. Ihn fror selbst in der Leere des Nichts, und das Gefühl der Trauer um die Toten und Sterbenden und die Verbrannten war so fern, daß es kaum zu existieren schien. Er war die Kälte selbst. Die Leere selbst. Nur der tobende Zorn Saidins erfüllte ihn.
Bewegungen zu beiden Seiten. Aviendha und Egwene, die Blicke konzentriert auf Lanfear gerichtet. Er hatte sie aus all dem heraushalten wollen. Sie mußten gleich hinter ihm hergerannt sein. Mat und Asmodean befanden sich draußen; die Kuppel schloß die letzten Wagen der Reihe nicht mit ein. In eisiger Ruhe verwob er Stränge aus Luft um Lanfear abzulenken. Wenn ihm das gelang, konnten Egwene und Aviendha sie vielleicht abschirmen.
Etwas zerschnitt seine Stränge. Sie peitschten so hart auf ihn zurück, daß er stöhnte.
»Eine von ihnen?« fauchte Lanfear. »Welche ist Aviendha?« Egwene warf den Kopf in den Nacken und heulte auf. Ihre Augen quollen heraus, und aller Schmerz der Welt entfloh ihrem Mund. »Welche?« Aviendha wurde auf die Zehenspitzen hochgerissen, schauderte, und ihre Schreie jagten die Egwenes, immer höher und schriller.
Der Gedanke stand plötzlich mitten in der Leere. Den Geist auf diese Art mit Feuer und Erde verweben.
Da. Rand spürte, wie etwas abgeschnitten wurde, das er nicht sehen konnte, und Egwene brach bewegungslos zusammen. Aviendha sackte auf Hände und Knie nieder, den Kopf gesenkt und hin und her schwankend.
Lanfear taumelte. Ihr Blick wandte sich von den Frauen ab und ihm zu; dunkle Seen aus schwarzem Feuer. »Du bist mein, Lews Therin! Mein!«
»Nein.« Rands Stimme schien seine eigenen Ohren aus einem meilenlangen Tunnel zu erreichen. Lenke sie von den Mädchen ab. Er bewegte sich weiter vorwärts und blickte nicht zurück. »Ich war niemals dein, Mierin. Ich werde immer zu Ilyena gehören.« Das Nichts bebte vor Kummer und Schmerz. Und vor Verzweiflung, als er gegen noch etwas anderes als nur den brennenden Strom Saidins anzukämpfen hatte. Einen Augenblick lang hielt sich alles die Waage. Ich bin Rand al'Thor. Und: Ilyena, für immer und ewig in meinem Herzen. Ein Balanceakt auf der Schneide eines Rasiermessers. Ich bin Rand al'Thor! Andere Gedanken quollen herauf, eine ganze Fontäne, an Ilyena, an Mierin, an das, womit er sie besiegen könnte. Er unterdrückte alle, selbst diesen letzten. Falls er auf der falschen Seite herauskam... Ich bin Rand al'Thor! »Dein Name ist Lanfear und ich werde sterben, bevor ich eine der Verlorenen liebe.«
Etwas wie Schmerz zog wie ein Schatten über ihr Gesicht, doch dann war es wieder nur mehr eine marmorne Maske. »Wenn du nicht mein bist«, sagte sie kalt, »dann bist du tot.«
Ein entsetzlicher Schmerz in seiner Brust, als müsse sein Herz bersten, und in seinem Kopf, wo sich weißglühende Nadeln in sein Hirn bohrten, so starke Schmerzen, daß er selbst im Nichts geborgen schreien wollte. Der Tod stand neben ihm, und er wußte es. Verzweifelt — selbst im Nichts noch verzweifelt; die Leere flimmerte und schwand — verwob er Geist und Feuer und Erde und schlug damit wild um sich. Sein Herz schlug nicht mehr. Eine Faust aus dunkelstem Schmerz zerquetschte das Nichts. Ein grauer Schleier überzog seine Augen. Er spürte, wie sein Gewebe brutal das ihre durchschnitt. Der Atem brannte in seiner leeren Lunge und das Herz begann mit einem Ruck wieder, Blut durch seinen Körper zu pumpen. Er konnte wieder sehen. Silberne und schwarze Flecken tanzten zwischen ihm und einer Lanfear, die mit steinerner Miene ihr Gleichgewicht wiederzufinden suchte, nachdem ihre eigenen Stränge auf sie zurückgeschnellt waren. Der Schmerz war wie eine offene Wunde in seinem Kopf und in der Brust doch das Nichts festigte sich wieder, und dann war dieser körperliche Schmerz verschwunden.
Und das war auch gut so, denn er hatte keine Zeit, sich zu erholen. Er zwang sich zur Vorwärtsbewegung und schlug mit einem Strang aus Luft auf sie ein, einem Knüppel, um sie bewußtlos zu schlagen. Sie zerschnitt das Gewebe, doch er schlug wieder zu, immer wieder, sobald sie sein letztes Gewebe durchtrennt hatte. Ein wütender Hagel von Schlägen prasselte auf sie nieder, den sie jedesmal kommen sah und abwehrte, doch er kam näher und näher. Wenn er sie nur noch ein paar Augenblicke beschäftigen könnte, wenn einer dieser unsichtbaren Knüppel ihren Kopf träfe, dann könnte er sich ihr weit genug nähern, um mit der Faust zuzuschlagen... Bewußtlos wäre sie genauso hilflos wie jeder andere.
Mit einemmal schien sie zu begreifen, was er vorhatte. Sie fing immer noch jeden seiner Schläge so leicht ab, als könne sie ihn kommen sehen, tänzelte dabei aber rückwärts, bis sie an einen Wagen stieß. Und sie lächelte wie das Herz des Winters. »Du wirst langsam sterben, und bevor du stirbst, wirst du mich anbetteln, mich lieben zu dürfen«, sagte sie.
Diesmal schlug sie nicht direkt nach ihm, sondern nach seiner Verbindung zu Saidin.
Die Panik schlug gegen das Nichts, daß es bei der ersten messerscharfen Berührung wie ein Gong dröhnte. Der Strom der Macht in ihm wurde dünner, als dieses Messer tiefer zwischen ihn und die Quelle drang. Mit Geist und Feuer und Erde schlug er auf die Messerklinge ein. Er wußte genau, wo er sie finden konnte, er wußte, wo sich seine Verbindung befand, und er spürte diesen ersten Schnitt. Die Abschirmung, die sie über ihn zu werfen suchte, verschwand, tauchte erneut auf, tauchte immer wieder auf, so schnell er auch ihre Stränge durchtrennte, und immer floß Saidin einen kurzen Moment von ihm weg, blieb fast ganz weg, und er konnte mit seinem Gegenschlag gerade noch ihrem Angriff begegnen. Zwei Stränge auf einmal zu weben sollte ihm leicht genug fallen, denn er konnte eigentlich zehn oder noch mehr gleichzeitig halten, aber eben nicht, wenn der eine Strang nur eine verzweifelte Abwehr gegen etwas darstellte, das er nicht sah, bis es fast zu spät war. Und auch nicht, wenn immer wieder die Gedanken eines anderen Mannes im Nichts emporquollen und ihm sagen wollten, wie er sie besiegen könne. Falls er darauf hörte, würde vielleicht Lews Therin Telamon davonkommen, und Rand al'Thor wäre nur noch eine Stimme, die manchmal in seinem Kopf etwas flüsterte, wenn überhaupt.
»Ich werde dafür sorgen, daß diese beiden Huren zuschauen, wenn du bettelst«, sagte Lanfear. »Aber soll ich sie zuerst dabei zusehen lassen, wie du stirbst, oder umgekehrt?« Wann war sie eigentlich auf den Wagen geklettert? Er mußte sie beobachten, mußte Ausschau halten nach der ersten Andeutung von Ermüdung bei ihr, sobald ihre Konzentration nachließ. Es war eine vergebliche Hoffnung. Sie stand neben dem verdrehten Türrahmen des Ter'Angreal und blickte auf ihn herab wie eine Königin, die gleich ihr Urteil fällen würde. Und dennoch nahm sie sich die Zeit, kalt auf einen altersdunklen Elfenbein-Armreif herabzulächeln, den sie unablässig in der Hand drehte. »Was wird dir mehr weh tun, Lews Therin? Ich will, daß du Schmerz empfindest. Ich will, daß du Schmerzen kennenlernst, wie noch kein Mann sie empfunden hat!«
Je stärker ihm der Strom der Macht von der Quelle zufloß, desto schwerer wäre er zu durchtrennen. Seine Hand verkrampfte sich um die Manteltasche, um den fetten kleinen Mann mit dem Schwert, das sich durch den Stoff hindurch in seine Handfläche bohrte, wo sich der eingebrannte Reiher befand. Er sog soviel Saidin auf, wie er nur konnte, bis das Verderben wie ein Regenschleier neben ihm durch die Leere schwebte.