Moghediens Hand fuhr an das Halsband, und vor Schreck weiteten sich ihre Augen. Wut und Schreck. Zuerst mehr Wut als Angst. Nynaeve fühlte das, als seien es ihre eigenen Gefühle. Moghedien wußte mit Sicherheit, was Leine und Halsband zu bedeuten hatten, aber trotzdem versuchte sie, die Macht zu lenken. Gleichzeitig spürte Nynaeve eine leichte Veränderung in ihrem Innern, im A'dam, während die andere sich bemühte, Tel'aran'rhiod dem eigenen Willen zu unterwerfen. Moghediens Versuch zu unterbinden war einfach. Der A'dam stellte eine Verbindung her, und sie hatte die Kontrolle in der Hand. Dieses Bewußtsein machte es ihr leicht. Nynaeve wollte nicht, daß diese Stränge gelenkt wurden, also wurden sie nicht gelenkt. Moghedien hätte genausogut versuchen können, einen Berg mit bloßen Händen aufzuheben. Die Angst überwältigte den Zorn.
Nynaeve stand auf und formte das entsprechende Bild in ihrem Geist. Sie stellte sich nicht nur Moghedien mit dem Halsband des A'dam vor, nein, sie wußte, daß Moghedien an der Leine hing, wußte es genauso eindeutig, wie sie ihren eigenen Namen kannte. Dieses Gefühl der Veränderung, das ihr so auf der Haut kribbelte, verging trotzdem nicht. »Hört auf damit«, befahl sie in scharfem Ton. Der A'dam bewegte sich nicht, schien aber kaum wahrnehmbar zu zittern. Sie stellte sich Nesseln vor, die von den Schultern bis zu den Knien über den Körper der anderen strichen. Moghedien schauderte und atmete krampfhaft aus. »Hört auf damit, sage ich, oder Ihr werdet Schlimmeres verspüren.« Die Veränderung hörte auf. Moghedien beobachtete sie wachsam. Sie hielt immer noch das silbrige Halsband mit einer Hand und machte den Eindruck, als stünde sie auf Zehenspitzen bereit, davonzulaufen.
Birgitte — das Kind, das Birgitte war oder gewesen war — stand da und musterte sie beide neugierig. Nynaeve stellte sie sich als erwachsene Frau vor und konzentrierte sich. Das kleine Mädchen steckte den Finger wieder in den Mund und begann, den Spielzeugbogen zu betrachten. Nynaeve atmete zornig und schnell. Es war schwierig, etwas abzuändern, was jemand anders bereits festhielt. Und obendrein hatte Moghedien auch noch behauptet, sie könne solche Veränderungen endgültig machen. Aber was sie getan hatte, konnte sie selbst auch wieder aufheben. »Stellt ihren vorherigen Zustand wieder her.«
»Wenn Ihr mich freilaßt, werde ich...«
Nynaeve dachte wieder an die Nesseln, und diesmal berührten sie die Haut der anderen nicht nur leicht. Moghedien zog die Luft durch zusammengebissene Zähne ein und bebte wie ein Laken im Sturm.
»Das«, stellte Birgitte fest, »war das Beängstigendste, was mir jemals passiert ist.« Sie war wieder sie selbst, wie zuvor mit Kurzmantel und Pumphosen, doch Bogen und Köcher fehlten. »Ich war wirklich ein Kind, aber zur gleichen Zeit befand ich mich — mein eigentliches Ich — wie eine imaginäre Gestalt irgendwo im Hinterkopf dieses kleinen Mädchens. Und mir war das bewußt. Ich wußte, ich würde einfach nur zuschauen, was geschah, und spielen...« Sie warf mit einem Ruck den goldenen Zopf nach hinten und blickte Moghedien bitter an.
»Wie bist du hierhergekommen?« fragte Nynaeve. »Ich bin dir dankbar dafür, aber ... wie konnte das sein?«
Birgitte warf Moghedien einen weiteren harten Blick zu, öffnete dann den Mantel und faßte am Hals unter ihre Bluse. Sie zog den verdrehten Steinring an seiner Lederschnur hervor. »Siuan ist aufgewacht. Nur einen Augenblick lang, und sicher war sie nicht ganz klar. Aber eben lang genug, um sich zu beklagen, daß du ihr dieses Ding abgenommen hättest. Als du dann nicht gleich nach ihr aufgewacht bist wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Also habe ich den Ring genommen und den Rest deines Gebräus für Siuan getrunken.«
»Es war doch kaum etwas übrig. Nur der Satz wahrscheinlich.«
»Genug jedenfalls, um einschlafen zu können. Übrigens, es schmeckt scheußlich! Danach war alles so leicht wie die Suche nach Federtänzern in Shiota. Es war eigentlich so, als wäre ich noch...« Birgitte schwieg und warf Moghedien noch einmal einen bitterbösen Blick zu. Der silberne Bogen erschien in ihrer Hand und ein Köcher voll silberner Pfeile an ihrer Hüfte, doch nach einem Augenblick verschwand beides wieder. »Vorbei ist vorbei, und die Zukunft liegt vor mir«, sagte sie entschlossen. »Es überraschte mich kein bißchen, festzustellen, daß sich gleich zwei hier befanden, die beide genau wußten, daß sie in Tel'aran'rhiod waren. Es war mir klar, wer die andere sein mußte, und als ich ankam und euch beide erblickte... Es schien so, als habe sie dich bereits in ihrer Gewalt, aber ich hoffte, daß dir etwas einfallen würde, wenn ich sie nur lange genug ablenkte.«
Nynaeve schämte sich im Innersten. Sie hatte daran gedacht, Birgitte hier im Stich zu lassen. Bevor sie auf die andere Lösung gekommen war, hatte sie sich das wirklich überlegt. Nur ganz kurz freilich, und sie hatte den Gedanken auch sofort wieder verworfen, aber ableugnen konnte sie ihn nicht. Was für ein Feigling sie doch war. Bestimmt kannte Birgitte solche Momente überhaupt nicht, wo die Angst sie so beherrschte... »Ich...« Ein schwacher Geschmack nach gekochtem Katzenfarn und zerstoßenem Mavinsblatt. »Ich wäre beinahe geflohen«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ich hatte solche Angst, daß mir die Zunge am Gaumen klebte. Beinahe wäre ich geflohen und hätte dich im Stich gelassen.«
»Ach?« Nynaeve wand sich innerlich vor Scham, als Birgitte sie nachdenklich ansah. »Aber du hast es nicht getan, ja? Ich hätte schießen sollen, bevor ich schrie, aber ich habe es niemals fertiggebracht, jemanden einfach hinterrücks zu töten. Selbst bei ihr nicht. Aber es ist ja alles noch einmal gutgegangen. Was wollen wir jetzt mit ihr machen?«
Moghedien schien mittlerweile ihre Angst überwunden zu haben. Sie ignorierte das silbrige Halsband und beobachtete Nynaeve und Birgitte, als wären sie die Gefangenen und nicht sie selbst, und als überlege sie, was mit ihnen geschehen solle. Abgesehen von einem gelegentlichen Zucken ihrer Hände, als wolle sie sich kratzen, wo ihre Haut sich an die Nesseln erinnerte, schien sie ganz die schwarzgekleidete Gelassenheit selbst. Nur durch den A'dam spürte Nynaeve, daß die Frau Angst hatte, innerlich fast wimmerte, aber sie unterdrückte das, und Nynaeve empfing das Gefühl nur ganz schwach. Sie wünschte sich, das Ding könnte ihr nicht nur die Gefühle, sondern auch die Gedanken Moghediens vermitteln. Andererseits war sie ausgesprochen froh darüber, daß sie nicht in dem Verstand hinter diesen kalten, dunklen Augen steckte.
»Bevor Ihr über ... drastische Maßnahmen nachdenkt«, sagte Moghedien, »möchte ich Euch zu bedenken geben, daß ich viel weiß, was Euch nützlich wäre. Ich habe die anderen Auserwählten beobachtet und kenne ihre Pläne. Ist das nichts wert?«
»Berichtet mir davon, und ich werde entscheiden, was es wert ist, falls überhaupt«, sagte Nynaeve. Was konnte sie nur mit der Frau anfangen?
»Lanfear, Graendal, Rahvin und Sammael haben sich zusammengeschlossen und gehen gemeinsam vor.«