Er hatte sein Gesicht auf eine wilde Art verzogen, die er selbst nicht bemerkte. So schlich er lauernd in den Palast zurück. Er wollte sehen, wie Rahvin starb.
Nynaeve warf sich auf den Boden und kroch über den Boden des Korridors, als etwas die am nächsten befindliche Wand durchschnitt. Moghedien rutschte genauso schnell hinterher, denn andernfalls hätte sie sie an der Leine des A'dam mitgeschleift. War das Rand gewesen oder Rahvin? Sie hatte Strahlen aus grellweißem Feuer gesehen, flüssigem Licht, ähnlich wie in Tanchico, und sie hatte kein Bedürfnis, einem davon noch einmal nahe zu kommen. Sie wußte nicht, was das war, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Ich will das Heilen erlernen! Seng doch diese beiden idiotischen Männer, heilen, aber nicht eine neue, ausgefallene Art zu töten!
Sie richtete sich ein wenig auf und spähte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Nichts. Ein leerer Flur mitten im Palast. Da war eben nur ein zehn Fuß langer Schnitt in beiden Wänden zu sehen, wie ihn auch der beste Steinmetz nicht sauberer hätte machen können, und auf dem Boden lagen verkohlte Reste von Wandbehängen. Kein Anzeichen der Anwesenheit eines der beiden Männer. Bisher hatte sie auch keinen einzigen Blick auf einen davon erhäschen können. Nur auf das, was sie zerstört hatten. Mehrmals hätte sie beinahe mit dazugehört. Es war gut, daß sie von Moghediens Zorn zehren, ihn aus der panischen Angst herausfiltern, die immer wieder aufzuwallen drohte, und in sich einsickern lassen konnte. Ihr eigener Zorn war dagegen ein bemitleidenswert dürftiges Gefühl, das kaum ausgereicht hätte, um sie die Wahre Quelle wahrnehmen zu lassen, geschweige denn den Strang Geist zu erhalten, der ihr Verbleiben in Tel'aran'rhiod sicherte.
Moghedien lag zusammengekrümmt auf den Knien und würgte, ohne sich richtig übergeben zu können. Nynaeve verzog den Mund. Die Frau hatte wieder versucht, den A'dam zu entfernen. Ihre Bereitwilligkeit zur Mitarbeit war schnell geschwunden, als sie entdeckten, daß sich Rand und Rahvin tatsächlich in Tel'aran'rhiod aufhielten. Nun, man bestrafte sich eben selbst, wenn man versuchte, das Band zu entfernen, das man um den eigenen Hals trug. Wenigstens hatte Moghedien diesmal nichts mehr im Magen gehabt.
»Bitte.« Moghedien zupfte Nynaeve am Kleid. »Ich sage Euch, wir müssen hier weg.« Panische Angst ließ ihre Stimme schmerzverzerrt klingen und zeigte sich auch deutlich auf ihren Gesichtszügen. »Sie befinden sich körperlich hier! Im eigenen Körper!«
»Seid ruhig«, sagte Nynaeve geistesabwesend. »Wenn Ihr mich nicht angelogen habt, ist das ein Vorteil. Für mich.« Die andere hatte behauptet, wenn man sich körperlich in der Welt der Träume aufhielt, beschränke das die Kontrolle über den Traum in erheblichem Maße. Oder besser, sie hatte das zugegeben, nachdem ihr etwas von ihren Kenntnissen in bezug auf diese Welt entschlüpft war. Sie hatte ebenfalls zugegeben, daß Rahvin Tel'aran'rhiod nicht so gut kannte wie sie. Nynaeve hoffte, das bedeute auch, er kenne es nicht so gut wie sie. Aber sie zweifelte nicht daran, daß er mehr darüber wußte als Rand. Dieser wollköpfige Kerl! Welchen Grund er auch hatte, hinter Rahvin herzusein, er hätte sich auf keinen Fall von ihm hierherlocken lassen dürfen, wo er die Spielregeln nicht kannte, wo bloße Gedanken töten konnten.
»Warum wollt Ihr nicht begreifen, was ich Euch sage? Selbst wenn sie sich nur hergeträumt hätten, wäre jeder von ihnen noch stärker als wir. Und im eigenen Körper könnten sie uns vernichten, ohne mit der Wimper zu zucken. Körperlich anwesend können sie viel mehr an Saidin in sich aufnehmen als wir Saidar, wenn wir träumen!«
»Wir sind verknüpft.« Nynaeve hörte immer noch nicht richtig hin, sondern riß statt dessen wieder einmal an ihrem Zopf. Keine Möglichkeit, festzustellen, wohin sie gegangen waren. Und keinerlei Vorwarnung, bis sie vor ihr standen. Irgendwie schien es ihr schon unfair, daß sie die Macht benützen konnten, und sie nicht in der Lage war, die Stränge zu sehen oder wenigstens zu fühlen. Ein Lampenständer, der in zwei Teile zerschnitten worden war, war mit einemmal wieder ganz, und dann genauso schnell wieder halbiert. Dieses weiße Feuer mußte unglaubliche Energie besitzen. Tel'aran'rhiod vervollständigte sich normalerweise ganz schnell wieder, gleich, was man in dieser Welt anstellte.
»Ihr hirnlose Närrin«, schluchzte Moghedien und riß mit beiden Händen an Nynaeves Rock, als wolle sie am liebsten Nynaeve selbst durchschütteln. »Es spielt keine Rolle, wie mutig Ihr seid. Wir sind verknüpft, aber in Eurem Zustand tragt ihr überhaupt nichts bei. Kein bißchen. Es ist meine Kraft und Euer Wahnsinn. Sie sind körperlich hier, nicht nur im Traum! Sie benützen Gewebe, wie Ihr sie Euch noch nicht einmal erträumt habt! Sie werden uns vernichten, wenn wir hierbleiben!«
»Sprecht gefälligst leiser!« fuhr Nynaeve sie an. »Wollt Ihr einen von ihnen auf uns aufmerksam machen?« Sie sah sich schnell nach beiden Richtungen um, doch der Flur war noch immer menschenleer. Waren das Schritte gewesen, Stiefeltritte? Rand oder Rahvin? Dem einen mußte man sich genauso vorsichtig nähern wie dem anderen. Ein Mann, der um das blanke Leben kämpfte, würde zuschlagen, bevor er erkannte, daß sie Freunde waren. Nun, sie zumindest.
»Wir müssen weg«, beharrte Moghedien, doch sie sprach jetzt leiser. Sie stand auf, einen mürrischtrotzigen Ausdruck um den Mund. In ihr wanden sich Furcht und Zorn. Erst war das eine stärker, dann das andere. »Warum sollte ich Euch überhaupt noch helfen? Das ist doch Wahnsinn!«
»Würdet ihr gern die Nesseln wieder spüren?«
Moghedien zuckte zusammen, doch ihre dunklen Augen blickten aufsässig drein. »Glaubt Ihr, ich lasse mich lieber von denen umbringen, als durch Euch neue Schmerzen zu erleiden? Ihr seid wirklich verrückt. Ich werde mich nicht von diesem Fleck rühren, bevor Ihr nicht bereit seid, uns von hier wegzubringen.«
Nynaeve riß wieder an ihrem Zopf. Falls Moghedien sich weigerte, zu gehen, würde sie sie mitschleifen müssen. Keine sehr schnelle Art, wenn man jemanden suchte und, wie es schien, meilenlange Korridore vor sich hatte. Sie hätte härter reagieren sollen, als diese Frau zum erstenmal versucht hatte, sich zu sträuben. An Nynaeves Statt hätte Moghedien ohne Zögern getötet, oder sie hätte, wenn sie die andere für nützlich hielt, Stränge gewoben, um ihr den Willen zu rauben, um sie dazu zu bringen, daß sie sie anbetete. Nynaeve hatte einen Vorgeschmack davon, bekommen, in Tanchico, aber selbst wenn sie gewußt hätte, wie man das machte, hätte sie das wahrscheinlich keiner anderen antun können. Sie verachtete diese Frau und haßte sie von ganzem Herzen. Und doch — hätte sie Moghedien nicht gebraucht: sie einfach umbringen, wie sie so dastand, nein, das hätte sie nicht fertiggebracht. Sie fürchtete nur, daß Moghedien das mittlerweile ebenfalls klargeworden war.
Trotzdem. Eine Seherin leitete die Versammlung der Frauen, auch wenn die manchmal ihren Entscheidungen nicht zustimmte, und die Versammlung bestrafte Frauen, die ein Gesetz übertreten oder zu sehr gegen die guten Sitten verstoßen hatten, und manchmal auch Männer für irgendwelche Übertretungen. Sie teilte wohl keineswegs Moghediens Hemmungslosigkeit, zu töten oder den Verstand eines Menschen zu zerstören, doch...
Moghedien öffnete den Mund, und Nynaeve füllte ihn mit einem Knebel aus Luft. Genauer gesagt, sie ließ das Moghedien selbst erledigen. Durch den sie verbindenden A'dam erschien das, als lenke sie selbst die Stränge, aber Moghedien war sich sehr wohl bewußt, daß Nynaeve ihre Fähigkeiten wie ein Werkzeug benutzte. Die dunklen Augen glitzerten empört, als Moghediens eigene Stränge die Arme an ihren Körper fesselten und ihr den Rock fest um die Füße zusammenzogen. Das Übrige erledigte Nynaeve mit Hilfe des A'dam, genau wie bei den Nesseln, und schuf Gefühle, die sie die andere empfinden lassen wollte. Nicht die Wirklichkeit, nur ein Gefühl, es sei alles real.