»Er sorgt dafür, daß sie sich auf Cairhien konzentriert«, sagte Alviarin. »Die Lage dort ist beinahe genauso schlimm wie in Tarabon und Arad Doman. Jedes Adelshaus streitet sich mit den anderen um die Nachfolge auf dem Sonnenthron, und überall herrscht Hungersnot. Morgase will die Ordnung wiederherstellen, aber sie wird einige Zeit brauchen, bis sie den Thron wirklich sicher hat. Bis es soweit ist, wird sie nicht viel Energie für andere Dinge übrig haben, auch nicht für die Tochter-Erbin. Und ich habe eine Sekretärin angewiesen, ihr von Zeit zu Zeit Briefe zu schicken. Die Frau kann Elaynes Handschrift recht gut imitieren. Morgase kann warten, bis wir sie wieder richtig unter Kontrolle haben.«
»Wenigstens haben wir ihren Sohn noch immer in der Hand.« Joline lächelte.
»Gawyn sich wohl kaum in unserer Hand befindet«, sagte Teslyn in scharfem Tonfall. »Die Jünglinge, die ihm folgen, mit den Weißmänteln ständig sich liefern Gefechte auf beiden Seiten von Fluß. Er machen, was er wollen, und nicht nur uns folgen.«
»Er wird wieder unter Kontrolle gebracht«, versprach Alviarin. Elaida spürte, wie diese ständige Kühle und Beherrschtheit der Weißen sie langsam, aber sicher in Rage brachte.
»Wenn wir schon die Weißmäntel erwähnen«, warf Danelle ein, »dann noch etwas. Wie es scheint, führt Pedron Niall Geheimverhandlungen, in denen er sich bemüht, Altara und Murandy dazu zu bringen, daß sie Land an Illian abtreten, damit der Rat der Neun davon absieht, eines von ihnen oder auch beide Länder anzugreifen.«
Nachdem sie das heikle Thema glücklich hinter sich gebracht hatten, plapperten die Frauen auf der anderen Seite des Tisches geschäftig weiter und bemühten sich, zu entscheiden, ob die Verhandlungen des kommandierenden Lordhauptmanns den Kindern des Lichts zuviel Einfluß verschaffen würden. Vielleicht sollte man sogar die Verhandlungen stören und dafür sorgen, daß die Weiße Burg dort die Rolle Nialls übernahm.
Elaida verzog den Mund. Die Burg war in ihrer langen Geschichte oft sehr vorsichtig vorgegangen, einfach aus der Notwendigkeit heraus. Zu viele Menschen fürchteten die Aes Sedai oder mißtrauten ihnen. Doch noch nie hatten sie selbst sich vor etwas oder vor jemandem gefürchtet. Und jetzt hatten sie Angst.
Ihr Blick wanderte zu den Gemälden hinüber. Das eine bestand aus drei Holztafeln, die Bonwhin zeigten. Sie war die letzte Rote gewesen, die zum Amyrlin-Sitz erhoben worden war, vor über tausend Jahren, und sie war auch der Grund dafür, daß seither keine Rote mehr die Stola getragen hatte. Bis jetzt. Bis zu Elaida. Bonwhin, hochgewachsen und stolz, die den Aes Sedai befohlen hatte, Artur Falkenflügel zu manipulieren. Bonwhin, trotzig, auf der Weißen Mauer von Tar Valon, das von Falkenflügels Heer belagert wurde. Noch einmal Bonwhin, demütig auf den Knien vor dem Burgrat, als sie ihr die Stola und den Stab abnahmen, weil sie beinahe die Burg zerstört hatte.
Viele fragten sich, wieso Elaida das Triptychon aus dem Lager hatte holen lassen, wo es von einer dicken Staubschicht bedeckt gelegen hatte. Keine sprach sie wohl darauf an, doch sie hörte das Getuschel. Sie verstanden nicht, warum es notwendig war, sich ständig daran zu erinnern, welchen Preis man für sein Versagen zu entrichten hatte.
Das zweite Gemälde entsprach der augenblicklichen Mode. Es war die Kopie der Skizze eines Künstlers aus dem fernen Westen, auf Leinwand, die man über einen Rahmen gespannt hatte. Es löste noch mehr Unbehagen unter den Aes Sedai aus, die es zu Gesicht bekamen. Zwei Männer kämpften in den Wolken miteinander, hoch droben am Himmel, mit Blitzen bewaffnet. Einer hatte ein Gesicht aus Feuer. Der andere war groß und jung und hatte rötliches Haar. Es war der Jüngling, der das Unbehagen auslöste und der Elaida immer wieder dazu brachte, die Zähne zusammenzubeißen. Sie wußte selbst nicht genau, ob es aus Zorn geschah oder um ein Zittern zu unterdrücken. Doch mit der Furcht konnte und mußte sie fertigwerden. Selbstbeherrschung war alles.
»Dann sind wir also fertig«, sagte Alviarin und erhob sich geschmeidig von ihrem Hocker. Die anderen taten es ihr nach, glätteten ihre Röcke und rückten die Stolen zurecht, um würdevoll hinausschreiten zu können. »In drei Tagen erwarte ich... «
»Habe ich Euch erlaubt, zu gehen, Töchter?« Das waren die ersten Worte, die Elaida sprach, seit sie die anderen aufgefordert hatte, sich zu setzen. Sie blickten sie vollkommen überrascht an. Einige gingen zu ihren Hockern zurück, doch ohne jede Eile. Und ohne ein Wort der Entschuldigung! Sie hatte das zu lange durchgehen lassen. »Da Ihr nun schon steht, werdet Ihr so lange stehen bleiben, bis ich fertig bin.« Diejenigen, die schon beinahe wieder saßen, richteten sich verwirrt und unsicher auf. »Ich habe nicht gehört, daß jemand die Suche nach dieser Frau und ihren Begleitern erwähnte.«
Nicht notwendig, den Namen dieser Frau zu erwähnen, Elaidas Vorgängerin. Sie wußten, wen sie meinte, und Elaida fiel es mit jedem Tag schwerer, auch nur an den Namen der früheren Amyrlin zu denken. Alle ihre augenblicklichen Probleme — alle! — gingen auf diese Frau zurück.
»Das ist schwierig«, sagte Alviarin gelassen, »da wir ja das Gerücht ausgestreut haben, sie sei hingerichtet worden.« Die Frau hatte Eis statt Blut in den Adern. Elaida blickte ihr fest in die Augen, bis sie ein verspätetes »Mutter« hinzufügte. Doch auch das klang unterkühlt und beinahe nebensächlich.
Elaidas Blick wanderte zu den anderen hinüber, und sie bemühte sich, in stählernem Tonfall zu sprechen: »Joline, Ihr seid verantwortlich für diese Suche und für die Untersuchung der näheren Umstände ihrer Flucht. In beiden Fällen höre ich immer wieder nur von Schwierigkeiten.
Vielleicht wird eine tägliche Buße Euren Eifer fördern, Tochter. Schreibt auf, was Ihr passend fändet, und dann reicht es bei mir ein. Sollte ich es... für etwas zu sanft halten, werde ich es verdreifachen.«
Jolines allgegenwärtiges Lächeln verflog auf der Stelle. Sie öffnete den Mund und schloß ihn dann unter Elaidas entschlossenem Blick wieder. Schließlich knickste sie tief. »Wie Ihr befehlt, Mutter.« Die Worte klangen gezwungen wie auch ihre Demut, aber für den Augenblick genügte es.
»Und wie steht es mit dem Versuch, diejenigen zurückzuholen, die geflohen sind?« Wenn überhaupt möglich, klang Elaidas Stimme noch härter. Die Rückkehr der Aes Sedai, die geflohen waren, als man diese Frau abgesetzt hatte, würde bedeuten, daß sich wieder Blaue in der Burg befanden. Sie war sich nicht sicher, daß sie jemals einer Blauen würde trauen können. Aber andererseits konnte sie wohl sowieso keiner mehr trauen, die davongelaufen war, anstatt ihre Thronbesteigung freudig zu begrüßen. Doch die Burg mußte wieder geschlossen auftreten.
Javindhra war für diese Aufgabe zuständig. »Es gibt auch hier Schwierigkeiten.« Ihre Gesichtszüge blieben genauso ernst wie sonst, doch sie fuhr sich hastig mit der Zunge über die Lippen, als sie den Sturm wahrnahm, der lautlos auf Elaidas Gesicht aufzog. »Mutter.«
Elaida schüttelte den Kopf. »Ich will nichts von Schwierigkeiten hören, Tochter. Morgen werdet Ihr mir eine Liste vorlegen, was Ihr bisher alles unternommen habt, und das schließt Eure Maßnahmen ein, jegliche Uneinigkeit in der Weißen Burg vor der Welt zu verbergen.« Das war lebenswichtig. Es gab wohl eine neue Amyrlin, doch die Welt mußte die Burg für genauso stark und einig halten wie bisher. »Solltet Ihr nicht genug Zeit für die Aufgaben haben, die ich Euch zuteile, wäre es vielleicht besser, Euren Platz als Sitzende für die Roten im Saal aufzugeben. Ich werde mir das überlegen.«
»Das wird nicht notwendig sein, Mutter«, sagte die Frau mit dem harten Gesicht schnell. »Ihr werdet den Bericht morgen erhalten. Ich bin sicher, daß viele bald zurückkehren werden.«
Elaida war da nicht so sicher, obwohl sie es ja wünschte, denn die Burg mußte stark sein, aber sie hatte ihren Standpunkt klargemacht. In aller Augen, von Alviarin abgesehen, stand besorgte Nachdenklichkeit. Wenn Elaida bereit war, mit einer Angehörigen ihrer eigenen früheren Ajah so umzuspringen und eine Grüne, die vom ersten Tag an auf ihrer Seite gestanden hatte, noch härter anzufassen, hatten sie vielleicht einen Fehler gemacht, sie nur als Strohmann zu betrachten. Vielleicht hatten sie alle geholfen, Elaida auf den Amyrlin-Sitz zu heben, doch nun war sie eben die Amyrlin. Sie würde an den kommenden Tagen noch ein paar Exempel statuieren, und dann sollte die Lektion sitzen. Wenn notwendig, würde sie jeder Anwesenden Strafen aufbürden, bis sie um Gnade bettelten.