Ein höfliches Hüsteln ließ ihn sich vom Anblick des Gartens abwenden.
Das Fenster, an dem er stand, befand sich an der Westseite des Thronsaals, des sogenannten Großen Saals, wo die Königinnen von Andor seit fast tausend Jahren ausländische Abgesandte empfingen und Recht sprachen. Es war der einzige Ort, von dem aus er seiner Meinung nach Mat und Aviendha ungesehen und ungestört beobachten konnte. Zu beiden Seiten des Saals wurde die Decke von einer Reihe zwanzig Schritt hoher weißer Säulen gestützt. Der durch die hohen Fenster einfallende Sonnenschein vermischte sich mit dem bunten Licht von den großen Fensterscheiben in der gewölbten Decke. Auf diesen bunten Glasscheiben waren abwechselnd der Weiße Löwe und Porträts einiger früher Königinnen des Reiches von Andor zu sehen, und daneben noch ein paar Szenen von großen Siegen des andoranischen Heers. Enaila und Somara schienen davon nicht beeindruckt.
Rand stieß sich mit den Fingerspitzen leicht ab und stieg vom Sims herunter. »Gibt es neues von Bael?«
Enaila zuckte die Achseln. »Die Jagd nach den Trollocs geht weiter.« Ihrem Tonfall nach wäre die kleine Frau nur zu gern dabeigewesen. Somaras Größe ließ Enaila daneben noch kleiner erscheinen. »Einige der Stadtbewohner helfen dabei. Die meisten verstecken sich aber. Die Stadttore sind besetzt. Keiner der Schattenverzerrten wird entkommen, glaube ich, aber ich fürchte, einige der Nachtläufer werden fliehen.« Die Myrddraal waren schwer umzubringen und genauso schwer einzufangen. Manchmal fiel es leicht, den alten Märchen Glauben zu schenken, sie könnten auf Schatten reiten und verschwinden, wenn sie sich zur Seite drehten.
»Wir haben Euch Suppe mitgebracht«, sagte Somara und nickte mit ihrem flachsblonden Schopf in Richtung eines mit einem gestreiften Tuch bedeckten Silbertabletts auf dem Podest mit dem Löwenthron. Den Thron selbst, einen massiv wirkenden, großen Lehnstuhl, erreichte man über einen roten Teppich und vier weiße Marmorstufen. Er war aus dunklem Holz geschnitzt und vergoldet, die Beine in der Form mächtiger Löwenpranken. In die Rückenlehne war der Löwe von Andor mit Mondperlen auf einem Feld von Rubinen eingearbeitet. Wenn Morgase auf dem Thron saß, mußte er sich genau über ihrem Kopf befunden haben. »Aviendha sagt, Ihr hättet heute noch nichts gegessen. Das hier ist die Suppe, die Euch Lamelle immer gekocht hat.«
»Ich schätze, von den Dienern ist noch keiner zurückgekehrt?« seufzte Rand. »Vielleicht eine der Köchinnen? Wenigstens eine Küchenhilfe?« Enaila schüttelte verachtungsvoll den Kopf. Sie würde ihren Dienst als Gai'schain durchaus wohlmeinend ableisten, falls es je dazu kam, aber allein der Gedanke, jemand könne das ganze Leben damit verbringen, andere zu bedienen, widerte sie an.
Er schritt die Stufen hinauf, kauerte sich nieder und schlug das Tuch zur Seite. Er rümpfte die Nase. Dem Geruch nach zu schließen, war diejenige, die das gekocht hatte, auch keine bessere Köchin als Lamelle. Das Geräusch der festen Stiefelschritte eines Mannes, der sich durch den Saal näherte, bot ihm eine Entschuldigung dafür, dem Tablett den Rücken zuzuwenden. Mit etwas Glück mußte er die Suppe doch nicht essen.
Der Mann, der über die roten und weißen Fliesen auf ihn zukam, war bestimmt kein Andoraner. Er trug einen kurzen, grauen Rock und bauschige Hosen, die er in die am Knie umgeschlagenen Stulpen seiner Stiefel gesteckt hatte. Er war schlank und nur einen Kopf größer als Enaila, hatte eine mächtige Hakennase und dunkle, leicht schräg stehende Augen. In seinem schwarzen Haar zeigten sich graue Strähnen, und sein dichter Schnurrbart lief an beiden Enden in nach unten gekrümmte Spitzen aus. Er blieb stehen und deutete einen Kratzfuß an, wobei er das Krummschwert an seiner Hüfte mit einer geschmeidigen Bewegung zur Seite schob und das Kunststück fertigbrachte, gleichzeitig in einer Hand zwei silberne Pokale und in der anderen einen geschlossenen Keramikkrug zu tragen.
»Entschuldigt mein Eindringen«, sagte er, »aber es war niemand da, um mein Kommen anzukündigen.« Seine Kleidung war wohl einfach und sogar ein wenig abgenutzt, aber er hatte etwas, das aussah wie ein Elfenbeinstab mit einem goldenen Wolfskopf, in seinen Schwertgurt gesteckt. »Ich bin Davram Bashere, Generalfeldmarschall von Saldaea. Ich bin hier, um mit dem Lord Drache zu sprechen, von dem Gerüchte in der Stadt behaupten, er halte sich hier im Königlichen Palast auf. Ich nehme an, ich spreche bereits mit ihm?« Einen Moment lang klebte sein Blick an den glitzernden Drachen, die sich rot und golden um Rands Unterarme wanden.
»Ich bin Rand al'Thor, Lord Bashere. Der Wiedergeborene Drache.« Enaila und Somara waren zwischen Rand und den Mann getreten, jede mit einer Hand am Griff ihres langen Messers und bereit, sich augenblicklich zu verschleiern. »Es überrascht mich, einen Lord aus Saldaea in Caemlyn anzutreffen, vor allem aber, seinen Wunsch zu hören, mit mir zu sprechen.«
»Um die Wahrheit zu sagen, ritt ich nach Caemlyn, um mit Morgase zu sprechen, wurde aber von Lord Gaebrils Speichelleckern abgewiesen — König Gaebrils, sollte ich wohl sagen? Oder ist er noch am Leben?« Basheres Tonfall war zu entnehmen, daß er das nicht annahm und daß es ihm außerdem gleichgültig war. Und er fuhr fort: »Viele in der Stadt behaupten, auch Morgase sei tot.«
»Sie sind beide tot«, sagte Rand mit bleierner Stimme.
Er ließ sich auf dem Thron nieder und lehnte seinen Kopf gegen den mondperlenbesetzten Löwen von Andor. Es war eben doch der Thron einer Frau. »Ich habe Gaebril getötet, aber leider erst, nachdem er Morgase töten ließ.«
Bashere zog eine Augenbraue hoch. »Sollte ich dann König Rand von Andor meinen Antrittsbesuch abstatten?«
Rand beugte sich zornig vor. »Andor hat immer eine Königin gehabt, und das trifft auch jetzt zu. Elayne war die Tochter-Erbin. Da ihre Mutter tot ist, ist sie nun die Königin. Vielleicht muß sie zuerst gekrönt werden — ich kenne die Gesetze hier nicht —, aber soweit es mich betrifft, ist sie die Königin. Ich bin der Wiedergeborene Drache. Das ist bereits alles, was ich will, und noch mehr. Was wollt Ihr nun von mir, Lord Bashere?«
Falls sein Zorn Bashere irgendwie beunruhigte, zeigte der Mann äußerlich nichts davon. Die schrägstehenden Augen beobachteten Rand genau, aber ohne Nervosität. »Die Weiße Burg gestattete Mazrim Taim die Flucht. Dem falschen Drachen.« Er schwieg einen Moment, und als Rand nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Königin Tenobia wollte nicht, daß es in Saldaea wieder zu Unruhen kommt, also schickte sie mich aus, um ihn wieder zu fangen und der Bedrohung ein Ende zu bereiten. Ich bin ihm viele Wochen lang nach Süden gefolgt. Ihr braucht aber nicht zu fürchten, daß ich ein fremdes Heer nach Andor gebracht habe. Bis auf eine Eskorte von zehn Mann habe ich alle im Brähmwald zurückgelassen, ein gutes Stück nördlich jeglicher Grenze, die Andor in den letzten zweihundert Jahren beansprucht hat. Aber Taim befindet sich in Andor. Da bin ich ganz sicher.«
Rand lehnte sich zögernd zurück. »Ihr könnt ihn nicht haben, Lord Bashere.«
»Dürfte ich fragen, warum nicht, mein Lord Drache? Falls Ihr Aiel einsetzen wollt, ihn zu jagen, so habe ich nichts dagegen. Meine Männer bleiben im Brähmwald, bis ich zurück bin.«