Er hatte diesen Teil seines Planes eigentlich nicht so bald enthüllen wollen. Jede Verzögerung mußte möglicherweise teuer bezahlt werden, aber sein Plan war es gewesen, zuerst einmal die Länder sicher in seiner Hand zu einen. Und doch konnte er genausogut schon jetzt beginnen. »Ich werde eine Amnestie verkünden. Ich kann die Macht lenken, Lord Bashere. Warum sollte man einen anderen Mann wie ein Tier jagen und töten oder einer Dämpfung unterziehen, weil er ebenfalls kann, was ich kann? Ich werde verkünden, daß jeder Mann, der in der Lage ist, die Wahre Quelle zu berühren, jeder Mann, der das erlernen möchte, zu mir kommen kann und unter meinem Schutz steht. Die Letzte Schlacht rückt näher, Lord Bashere. Es mag gar keine Zeit mehr sein, daß einer von uns vorher noch dem Wahnsinn verfällt, und ich würde nur dieses Risikos wegen auch das Leben keines einzigen Mannes aufs Spiel setzen. Als die Trollocs während der Trolloc-Kriege aus der Fäule heraus angriffen, wurden sie von Schattenlords angeführt, Männern und Frauen, die im Dienst des Schattens die Macht einsetzten. In Tarmon Gai'don werden wir ihnen erneut gegenüberstehen. Ich weiß nicht, wie viele Aes Sedai an meiner Seite sein werden, aber ich werde bestimmt keinen Mann abweisen, der mit der Macht umgehen kann und sich mir anschließen will. Mazrim Taim gehört mir, Lord Bashere, und nicht Euch.«
»Aha.« Er sagte es ganz ausdruckslos. »Ihr habt Caemlyn erobert. Wie ich hörte, gehört Euch auch Tear und Cairhien wird Euch bald gehören, wenn Ihr es nicht schon habt. Habt Ihr vor, die ganze Welt mit Hilfe Eurer Aiel und der Männer zu erobern, die mit der Macht umgehen können?«
»Wenn ich muß.« Das klang bei Rand genauso ausdruckslos. »Jeden Herrscher, der mit mir zusammenarbeiten will, werde ich gern als Verbündeten willkommen heißen, aber was ich bisher gesehen habe, war nur ein einziges Intrigenspiel um Macht oder offene Feindseligkeit. Lord Bashere, in Tarabon und Arad Doman herrscht Anarchie, und in Cairhien war es nicht mehr weit dahin. Amadicia liebäugelt mit Altara. Die Seanchan — vielleicht habt Ihr in Saldaea Gerüchte über sie vernommen, und die schlimmsten dürften wohl der Wahrheit entsprechen —, die Seanchan auf der anderen Seite der Welt liebäugeln damit, all unsere Länder hier zu erobern. Die Menschen tragen ihre eigenen kleinkarierten Kämpfe aus, obwohl Tarmon Gai'don vor der Tür steht. Wir brauchen Frieden. Zeit, bevor die Trollocs kommen, bevor der Dunkle König ausbricht, Zeit, um uns vorzubereiten. Falls der einzige Weg, den ich finde, um der Welt die nötige Zeit und den nötigen Frieden zu schenken, der ist, daß ich sie dazu zwinge, dann werde ich das tun. Ich will das nicht, aber ich bin fest dazu entschlossen.«
»Ich habe den Karaethon-Zyklus gelesen«, sagte Bashere. Er klemmte sich die Pokale einen Moment lang unter den Arm, erbrach das wächserne Siegel auf dem Krug und schenkte dann den Wein ein. »Was noch wichtiger ist, Königin Tenobia hat die Prophezeiungen ebenfalls gelesen. Ich kann nicht für Kandor, Arafel oder Schienar sprechen, wenn ich auch glaube, daß sie sich Euch anschließen werden, denn es gibt in den Grenzlanden wohl kaum ein Kind, das nicht weiß, daß in der Fäule der Schatten darauf wartet, sich auf uns niederzusenken, aber für sie kann ich mich nicht verbürgen.« Enaila betrachtete den Pokal, den er ihr übergab, mißtrauisch, aber sie schritt doch die Treppe hinauf und gab ihn an Rand weiter. »Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr Bashere fort »kann ich nicht einmal für Saldaea sprechen. Tenobia herrscht, und ich bin nur ihr General. Doch ich glaube, wenn ich einen schnellen Reiter mit einer Botschaft zu ihr schicke, wird die Antwort zurückkommen, daß Saldaea gemeinsam mit dem Wiedergeborenen Drachen in den Kampf zieht. In der Zwischenzeit biete ich Euch meine Dienste an und die von neuntausend berittenen Soldaten aus Saldaea.«
Rand drehte den Pokal in seiner Hand und blickte auf den dunkelroten Wein. Sammael in Illian und andere Verlorene irgendwo, das Licht allein mochte wissen, wo. Die Seanchan warteten jenseits des Aryth- Meeres, und hier waren Männer bereit, alles zu ihrem eigenen Vorteil und Profit zu unternehmen, ohne Rücksicht darauf, was es die Welt kosten würde. »Der Friede ist noch weit entfernt«, sagte er leise. »Noch einige Zeit lang wird es Blutvergießen und Tod geben.«
»Das ist doch immer so«, erwiderte Bashere ruhig, und Rand wußte nicht, welche der beiden Aussagen er damit bestätigen wollte. Vielleicht beide.
Asmodean klemmte sich die Harfe unter den Arm und entfernte sich langsam von Mat und Aviendha. Er spielte gern, aber nicht für Leute, die ihm gar nicht zuhörten und seine Musik nicht einmal annähernd zu schätzen wußten. Er war nicht sicher, was eigentlich an diesem Morgen vorgefallen war, und er war nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Zu viele Aiel hatten ihrer Überraschung Ausdruck gegeben, daß er noch am Leben sei, und sie behaupteten, ihn tot am Boden liegen gesehen zu haben. Er wollte lieber keine Einzelheiten hören. In der Wand vor ihm war ein langer Riß, fast ein Schnitt, zu sehen. Ihm war klar, was eine solch scharfe Kante verursachte, eine solch glatte Oberfläche, daß sie wie Eis wirkte, glatter als das, was eine Hand in hundert Jahren des Polierens erreichen könnte.
Ganz nebenbei — obwohl ihn dabei schauderte —fragte er sich, ob eine Wiedergeburt auf diese Weise einen neuen Menschen aus ihm gemacht habe. Er glaubte allerdings nicht daran. Die Unsterblichkeit war verloren. Das war ein Geschenk des Großen Herrn gewesen.
Diese Bezeichnung benützte er in Gedanken, gleich, was al'Thor ansonsten von ihm verlangte. Das war Beweis genug, daß er noch er selbst war. Die Unsterblichkeit verloren... Er wußte, daß es wohl reine Einbildung war, wenn er manchmal das Gefühl hatte, die Zeit zerre ihn auf ein Grab zu, von dem er sich auf ewig sicher geglaubt hatte. Und wenn er das wenige an Saidin in sich aufnahm, was ihm noch blieb, war es, als trinke er Jauche. Es tat ihm wohl kaum leid, daß Lanfear tot war. Dasselbe galt für Rahvin, doch für Lanfear ganz besonders, nach allem, was sie ihm angetan hatte. Auch der Tod der anderen würde ihm bestenfalls ein Lachen entlocken, vor allem dann, wenn der letzte an der Reihe war. Er war ganz und gar nicht als neuer Mensch wiedergeboren worden, soviel war ihm klar, und deshalb würde er sich an dieses Grasbüschel am Rande der Klippe klammern, solange er nur konnte. Irgendwann würden die Wurzeln nachgeben, und der lange Absturz stünde ihm bevor; bis dahin aber lebte er noch.
Er öffnete eine kleine Seitentür und wollte die Speisekammer suchen. Dort sollte es doch genießbaren Wein geben. Ein Schritt, und er blieb stehen. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. »Ihr? Nein!« Das Wort hing noch in der Luft, als der Tod nach ihm griff.
Morgase tupfte sich den Schweiß vom Gesicht, steckte dann das Taschenruch in ihren Ärmel zurück und rückte den etwas zerzausten Strohhut zurecht. Wenigstens war es ihr gelungen, sich ein anständiges Reitkleid zu verschaffen, obwohl selbst diese dünne, graue Wolle bei der Hitze noch unbequem war. Genauer gesagt hatte Tallanvor ihr das Kleid besorgt. Sie ließ ihr Pferd im Schritt gehen und musterte den hochgewachsenen jungen Mann, der vor ihnen zwischen den Bäumen einherritt. Basel Gills rundliche Figur betonte noch, wie groß und sportlich Tallanvor wirkte. Er hatte ihr das Kleid mit dem Kommentar überreicht, es stehe ihr besser als dieses kratzige Ding, in dem sie aus dem Palast geflohen war, wobei er auf sie herabblickte, nicht mit der Wimper zuckte und kein Wort des Respekts für sie übrig hatte. Natürlich war es ihre eigene Entscheidung gewesen, daß niemand wissen dürfe, wer sie sei, besonders, nachdem sie feststellten, daß Gareth Bryne Korequellen verlassen hatte. Wieso ritt der Mann davon, um Brandstifter zu verfolgen, jetzt, wo sie ihn benötigte? Nicht schlimm; sie würde auch ohne ihn auskommen. Aber es lag etwas Beunruhigendes in Tallanvors Blick, wenn er sie einfach Morgase nannte.
Seufzend blickte sie sich um. Der ungeschlachte Lamgwin beobachtete aufmerksam den Wald, während Breane an seiner Seite mehr auf ihn achtete als auf alles andere. Seit Caemlyn hatte sich niemand mehr ihrem Heer angeschlossen. Zu viele hatten die Geschichten vernommen, daß man Adlige ohne jeden Grund verbannt hatte und welch ungerechte Gesetze nun das Leben in der Hauptstadt erschwerten, und so hatten sie für jede noch so vorsichtige Andeutung, man könne ja eine Hand zur Unterstützung ihrer rechtmäßigen Herrscherin rühren, nur Sport und Hohn übrig. Sie zweifelte daran, daß es einen Unterschied gemacht hätte, hätten sie gewußt, wer da zu ihnen sprach. Also ritt sie jetzt durch Altara, wobei sie sich so weit wie möglich im Wald aufhielten, da sich hier überall Gruppen bewaffneter Männer herumzutreiben schienen, ritt durch den Wald in Begleitung eines Straßenschlägers mit Narben im Gesicht, einer liebeskranken Adligen, die aus Cairhien geflohen war, eines fetten Wirts, der schon niederkniete, kaum, daß sie ihn anblickte, und eines jungen Soldaten, der sie manchmal ansah, als trüge sie eines jener Kleider, die sie für Gaebril angezogen hatte. Und Linis natürlich. Lini konnte man nicht übergehen.