Sie glitten miteinander an Deck hinunter und fanden den Bootsmannsmaat bei den Rudergasten stehen.
«Gleich geht die Sonne auf«, sagte er hastig.»Ich verstehe das nicht. Er ist wie besessen, da unten in der Kajüte. Ich weiß nicht, was werden soll, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten gibt. «Er wandte sich ab; seine Stimme wurde spröde.»Nochmals Gefangenschaft — das halte ich nicht aus. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben, bei Gott nicht!»
«Wir gehen zu ihm hinunter. Aber ich bin kein Arzt«, erwiderte Bolitho und faßte Dancer beim Arm.
In der winzigen Kajüte, wo der letzte Kapitän der Sandpiper sein bißchen Privatleben und eine Menge Sorgen gehabt hatte, fanden sie Tergorren am Tisch sitzen. Sein Oberkörper war auf die Tischplatte gesunken, das Gesicht lag in den gekreuzten Armen. Die Kajüte stank nach Schnaps oder billigem Rotwein; bei jeder Bewegung der Brigg rollte unter der Koje polternd eine Flasche hin und her, und im Schein der einzigen Lampe sah Bolitho in einem Gestell vor dem Schott noch eine ganze Reihe solcher Flaschen.
Grimmig murmelte Dancer:»Anscheinend hat Mr. Tergorren seinen privaten Himmel gefunden.»
Bolitho lehnte sich über den Tisch.»Ich versuche, ihn wachzukriegen. Halt du dich raus. «Er faßte den Leutnant unter den Achseln, wuchtete ihn hoch und setzte ihn so hin, daß die Stuhllehne ihn im Rücken stützte. Er dachte, Tergorren sei schlicht betrunken; aber Dancer rief:»Mein Gott, Dick, der sieht ja aus wie der Tod!»
Tergorren war erschreckend bleich; sein sonst so wetterrotes Gesicht war fleckig grau, und als er mühsam die zitternden Lider hob, war sein Blick so verwirrt wie unter der Einwirkung eines schweren Schocks.
Er wollte etwas sagen, aber seine Sprache war so behindert, daß er eine ganze Weile krächzen mußte, um sich die Kehle freizumachen.
«Sind Sie krank, Sir?«Dancer versuchte, ein Grinsen zu verbergen, und Bolitho fuhr rasch fort:»Mr. Starkie macht sich große Sorgen um Sie, Sir.»
«So, macht er?«Tergorren versuchte aufzustehen, sank aber laut stöhnend in den Stuhl zurück.»Geben Sie mal die Flasche da her!«Unbeholfen, als ob seine Finger Klauen wären, umfaßte er die Flasche und tat einen langen, verzweifelten Zug.
«Weiß nicht, was mit mir los ist. «Er war kaum zu verstehen.»Glieder gehorchen mir nicht. «Er rülpste und versuchte nochmals, aufzustehen.»Muß an Deck.»
Bolitho und Dancer hievten ihn hoch, und die drei schwankten und stolperten ein paar Sekunden wie in einem makabren Tanz.»Den hat's aber richtig erwischt«, murmelte Dancer.»Blutfieber nennt unser alter Doktor das. Er fällt ja ganz auseinander!»
Als sie sich den Niedergang zur Hauptluke hinaufarbeiteten, sah Bolitho, daß Eden in der Tür der anderen kleinen Kajüte stand — dort hatte man Hope hingeschafft — und ihnen nachblickte.
«Faß mal mit an, Tom! Wir müssen ihn an Deck schaffen.»
«D-der sieht aber wirklich f-furchtbar aus!«sagte Eden freudestrahlend.
An Deck war die Luft wie Wein nach dem scheußlichen Gestank in der Kajüte. Starkie kam ihnen eilig vom Ruder her entgegen.»Hat er wirklich das Fieber?»
«Er hat G-gicht, Mr. Starkie«, piepste Eden.»H-hab' ich ja die g-ganze Zeit gesagt. Er hat M-medizin gegen die Schmerzen genommen, w-wahrscheinlich eine Überdosis.»
Alle starrten den winzigen Midshipman an, der sich da plötzlich als ein Born medizinischer Weisheit erwies — der einzige, den sie hatten.
«Ja — aber was sollen wir denn bloß machen?«Starkie schien völlig ratlos zu sein.
Eden musterte den zusammengesunkenen stöhnenden Mann und erwiderte:»W-enn wir wieder auf dem Schiff sind, wird ihn der D-doktor b-behandeln. Hier können wir g-gar nichts machen. «Er verzog das Gesicht.»G-geschieht ihm g-ganz recht.»
«Das mag ja sein«, sagte Starkie und blickte zu Dancer hinüber, der den Leutnant am Rock festhielt, weil er eben beinahe über die Reling ins Meer gefallen wäre.»In Kürze werden wir ihn aber sehr nötig brauchen.»
Verwundert blickte Dancer ihn an.»Wieso denn? Wir können doch der Gorgon signalisieren, und der Kapitän wird schon wissen, was zu tun ist.»
Starkie warf ihm einen trüben Blick zu.»Sie haben es nicht gemerkt. Der Wind hat nach Nordost gedreht. Ihr Schiff würde den ganzen Tag brauchen, um auf unsere Position zu kreuzen — das heißt, wenn Ihr Kapitän überhaupt weiß, was hier los ist.»
«Aber was hindert uns, Kurs auf die Gorgon zu nehmen?«beharrte Dancer.
«Ich bin ja nur Bootsmannsmaat«, erwiderte Starkie,»und froh, wieder in Freiheit und in Sicherheit zu sein; aber ich kenne die Kriegsmarine, und ich kenne die Kapitäne. Die Sandpiper liegt in günstiger Position, den Feind anzugehen, oder ihm wenigstens bis zu seinem Schlupfwinkel zu folgen. «Er hob die Schultern.»Aber ohne Offiziere — da weiß ich nicht so recht. Für nutzloses Heldentum kriegt man in keiner Flotte eine Belohnung.»
«Wir segeln also nicht zur Gorgon?«fragte Eden. Er sprach so leise, daß ihn alle erstaunt ansahen.
Bolitho fiel auf, daß er vor lauter Angst nicht einmal mehr stotterte.»Komm mal her zu mir, Tom«, sagte er. Er nahm den Knaben beim Arm und fragte ganz ruhig:»Was hast du mit Mr. Tergorren angestellt?»
Eden starrte das Deck an; seine Hände zuckten nervös.»Ich wußte, daß er sich selbst k-kuriert und sich M-medizin in den Wein tut. Auf einer Flasche in seiner K-kajüte steht's drauf. Vinum Antimonii — was mein V-vater immer bei G-gicht verordnet. Und da hab ich eine g-große Dosis in eine von seinen W-weinflaschen geschüttet. Er m-muß alles ausgetrunken haben, und noch eine ganze Flasche B-brandy obendrein«, schloß er verzweifelt.
Bolitho starrte ihn entsetzt an.»Du hättest ihn umbringen können».
«A-aber ich dachte doch, wir k-kommen auf unser Schiff, verstehst du. Es sollte ihm d-doch bloß mal so r-richtig dreckig gehen, weil er so g-gemein zu dir war, und zu m-mir auch. «Er schüttelte traurig den Kopf.»Und nun sagst du, wir s-segeln noch nicht zur G-gorgon zurück?»
Bolitho holte tief Atem.»Sieht jedenfalls so aus.»
Dancer stützte den Leutnant, der vom Schanzkleid wegtaumelte.»Zwei Mann her!«rief er.»Der Leutnant muß wieder in seine Kajüte geschafft werden.»
«Bin bloß neugierig, was jetzt werden soll«, sagte Bolitho.
Wie eine Antwort darauf kam ein Ruf vom Ausguck:»Deck ahoi! Segel in Lee voraus!»
Sie stürzten an die Reling, aber in Lee lag das Meer noch in tiefem Schatten.
Bitter sagte Starkie:»Also liegen wir diesem Satan genau im Wind. Der steht genau zwischen uns und unserer Sicherheit.»
«Wie gut kennen Sie diese Küste?«fragte Bolitho, und es war, als stelle sich diese Frage ganz von selbst, ohne sein Zutun.
«Gut genug. «Starkie blickte starr auf den Kompaß nieder, wie um seine Gedanken zu sammeln.»Eine schlechte Küste, wenn man versuchen will, schneller als eine Fregatte zu sein.»
Bolitho dachte an die Gorgon, die sich südlich zur Position der Sandpiper befand. Vielleicht wußte der Kapitän noch nicht einmal, daß sie die Brigg genommen hatten, sondern glaubte, sie sei zusammen mit der Fregatte entkommen.
Eben sagte Starkie:»Wir hatten monatelang nach den Piraten gesucht; und Käpt'n Wade hatte von einem Genueser Handelsschiff gehört, daß sich in diesen Gewässern ein solches Schiff herumtreiben soll. Damals dachte der Käpt'n, es wäre nur ein kleines Schiff und tauge wahrscheinlich nicht viel. Doch dieser Pirat versteht sein Geschäft, glauben Sie mir! Er soll halb Franzose, halb Engländer sein; aber eins ist sicher: er hat sich mit irgendwelchen algerischen Korsaren zusammengetan, die vom Mittelmeer gekommen sind, um hier sowohl Sklavenschiffe als auch ehrliche Kauffahrer auszurauben.»