Bolitho sah sich um. Der Kampfeswille, das Zielbewußtsein der Männer schwanden schnell dahin. Und wer konnte es ihnen verdenken? Die Pegaso hatte jede Bewegung der Sandpiper mitgemacht; sie hatte sich keineswegs überraschen lassen. Sie war aus dem Riffgürtel heraus, und schon sah er die Säbel und Messer in den Händen der Feinde blitzen, die von den Kanonen weg zur Reling rannten, bereit zum Entern. Ihm fiel ein, was Starkie über das Schicksal seiner Offiziere berichtet hatte: Folter und schließlich ein qualvolles Ende.
Er zog seinen Entersäbel und brüllte:»Alle Mann an Steuerbord!«Ungläubig, verzweifelt und stumpf starrten sie ihn an.
Er sprang in die Luvwanten und schwang seinen Entersäbel zur Pegaso hinüber.»Die sollen uns nicht ohne Kampf kriegen!»
Kleine Einzelzüge traten aus dem Gesamtbild heraus. Ein Mann der Sandpiper zog sein Messer und wetzte es an seinem hornigen Handballen, den Blick starr auf die Fregatte gerichtet. Einer kam von Backbord herüber und sah einem anderen in die Augen, wahrscheinlich sein bester, einziger Freund. Kein Wort. Aber seine Miene sprach deutlicher als alle Worte. Eden stand am Niedergang, kalkig weiß im Gesicht, und schon trocknete eines Mannes Blut an seinem Hemd; bald würde auch sein eigenes Blut dort fließen und gerinnen. Dancer. Wie Gold glänzte sein Haar in der Sonne, er schob das Kinn vor, nahm einen Entersäbel vom Deck hoch und stützte sich darauf. Mit der anderen Hand kniff er sich wie mit Klauen in den Oberschenkel, damit ihm der Schmerz die Angst vertreibe.
Ein Mann, der schon beim Entern der Brigg verwundet worden war, lehnte an einem Sechspfünder; sein Bein war dick verbunden, aber mit geschäftigen Händen lud er Pistolen und gab sie an die Kameraden weiter.
Ein Geheul wie von einer Hundemeute tönte von dem dichtbemannten Deck der Pegaso herüber, als sie weiter aufkam und die Schatten ihrer Masten und Rahen über das Wasser hin schon bis zur Brigg reichten, wie um sie einzufangen und zu verschlingen.
Bolitho blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Ungläubig starrte er auf die offenen Stückpforten der Fregatte. Dort zwängte sich doch ein Mann heraus? Und dann noch einer sie klammerten sich beide an das schwarze Rohr, und auch aus den anderen Stückpforten krochen Männer wie Ratten aus der Gosse.
Starkie brüllte:»Die geben das Schiff auf, Sir!«er faßte ihn beim Arm und drehte ihn zu den Netzen hin.»Sehen Sie sich das bloß an!»
Wortlos stand Bolitho neben ihm. Immer mehr Männer sprangen aus den Stückpforten ins Meer und wurden weggewirbelt wie Holzspäne im Strudel einer Wassermühle.
Gauvin, der grimmige Kapitän der Pegaso, mußte Wachen an jedem Niedergang postiert haben; schon bei der irrsinnigen, aussichtslosen Verfolgung mußte er gewußt haben, daß das Leck im Rumpf seines Schiffes tödlich war.
Starkie beobachtete, wie sich der Bug der Fregatte unter dem Gewicht der einströmenden Wassermassen senkte, und wie auf dem Oberdeck, als schließlich auch der letzte begriff, was los war, ein wahres Pandämonium ausbrach.»Hier, ziehen Sie Ihren Rock an!«sagte er zu Bolitho. Seine Stimme war vor Erregung ganz rauh. Er half ihm sogar beim Anziehen und zupfte den Kragen mit den weißen Belägen zurecht.
Er deutete zur Pegaso hinüber, die abzudrehen begann, weil die schwache Ruderkraft dem Druck des einströmenden Wassers nicht mehr gewachsen war.
«Er soll Sie sehen und das ist hoffentlich noch eine Extrastrafe für seine Untaten!»
Bolitho starrte ihn verständnislos an, da fuhr er fort:»Er soll wissen, daß er von einem Midshipman geschlagen worden ist! Von einem Knaben!»
Bolitho wandte sich ab. Seine Ohren waren voll von den Geräuschen der Selbstvernichtung eines Schiffes, das unter vollen Segeln hilflos herumgeworfen wird. Er hörte, wie die Geschütze aus ihren Halterungen gerissen wurden und schmetternd in das Schanzkleid der anderen Seite schlugen; wie die Spieren an Deck stürzten und die kopflose Mannschaft unter Tauwerk und Leinwand begruben.
Verfremdet hörte er seine eigene Stimme:»Segel kürzen, Martyn. Laß ›Alle Mann‹ pfeifen!»
Er fühlte, wie die Matrosen ihm auf die Schulter klopften, sah sie ihm zulachen und zuwinken. Nicht wenige weinten.
«Deck ahoi!«Sie hatten den einsamen Mann im Masttopp ganz vergessen.»Segel steuerbord voraus, Sir. «Eine ganz kleine Pause, dann:»Das ist die Gorgon!»
Bolitho winkte» Verstanden «zum Ausguck hinauf und wandte sich wieder nach Luv, wo die Fregatte am Kentern war. Um sie herum war die See voller Treibgut und Trümmer und auf- und niedertauchenden Köpfen. Aber dort, wo die Sonne nicht hinschien, jenseits der Dünung, sah er eine plötzliche Bewegung im Wasser; die messerscharfen Rückenflossen der Haie zogen schon ihre Kreise um das sinkende Schiff. Über eine Meile bis zu nächsten Küste. Sehr zweifelhaft, ob einer der Schwimmer sie erreichen würde.
Er hob das Fernrohr, um nach der Gorgon Ausschau zu halten; die Augen wurden ihm feucht, als er ihren plumpen, schwarzen, braun abgesetzten Rumpf erblickte und die turmhohe Segelpyramide die nächste Landspitze umrunden sah.
Noch eine Sekunde, dachte er, und er würde zusam-menbrechen und seine Gefühle vor den Umstehenden nicht mehr verbergen können.
Da — eine Bullenstimme:»Was, zum Teufel, ist hier los?«Leutnant Tergorren tauchte mit halbem Leib aus der Niedergangsluke empor; mit seinem verquollenen, grauen Gesicht, den von Wein und Schlimmerem verklebten Haaren, sah er wie ein dem Grab entstiegener Leichnam aus.
Bolitho verspürte eine irrsinnige Erleichterung. Ihm war, als müsse er zugleich lachen und weinen; der wüste Anblick dieses Mannes, der sich während des ganzen Kampfes hilflos in seiner Koje gewälzt hatte, gab ihm den Rest.
Mit bebender Stimme antwortete er:»Ich bitte um Entschuldigung, daß wir Sie gestört haben, Sir.»
Tergorren starrte ihn an und versuchte, mit seinen wütenden, blutunterlaufenen Augen wenigstens nicht zu schielen.
«Gestört?»
«Aye, Sir. Aber wir hatten ein Seegefecht.»
Gelassen sagte Starkie:»Holt Mr. Eden. Ich fürchte, dem Leutnant wird wieder schlecht!»
IX Ehrlos
Kapitän Beves Conway stand am offenen Heckfenster und schützte seine Augen mit der Hand gegen die blitzenden, wild flimmernden Sonnenreflexe. Vor dem Fenster der Kapitänskajüte dümpelte die rückeroberte Brigg in der Dünung, ihre bräunlichen Segel bewegten sich kaum; träge stand sie über ihrem Spiegelbild im Wasser.
In den paar Stunden nach dem abenteuerlichen Durchbruch der Sandpiper durch das Riff und der Vernichtung der Fregatte war der Wind abgeflaut, bis er nur noch wie ein Hauch über das Wasser wehte und die schwere Gorgon ohne Fahrt in der Dünung lag.
Drüben am Horizont war die Küste gerade noch sichtbar. Wie ein fahlgelber Pinselstrich lag sie da und schien in der glühendheißen, wabernden Luft ständig ihre Form zu verändern. Einzelheiten waren nicht mehr zu unterscheiden.
Conway wandte sich langsam um und betrachtete eingehend die Männer, die am Schott beieinanderstanden.
Tergorren, massig, mit blutunterlaufenen Augen, schwankte im langsamen Rollen der Dünung; immer noch war sein Gesicht aschfarben. Die drei Midshipmen und der Steuermannsmaat Mr. Starkie standen etwas abseits.
Verling, der Erste Leutnant, war ebenfalls dabei; seine Nase drückte Mißbilligung aus, als der Kapitänssteward diesen Männern in ihren schmutzigen, zerrissenen Uniformen Madeira kredenzte.
Der Kapitän nahm ein wunderbar geschliffenes Glas von einem Tablett und hielt es in das einströmende Sonnenlicht.