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Bolitho spähte nach achtern zu dem großen doppelten Steuerrad, dessen Speichen vier Rudergasten umklammert hielten — wahrscheinlich, dachte er, lief noch eine starke Dünung gegen Ruder und Segel an. Neben ihm stand der alte Turnbull, der Segelmeister, formlos in seinem schweren Ölzeug; mit lebhaften Bewegungen der krebsroten Fäuste gab er seinen Maaten Anweisungen.

In Luv, bei den Finknetzen, stand ganz allein der Kapitän. Er hatte sich in seinen langen Bootsmantel gewickelt, aber sein Haar flog im Wind, als er zu den gerefften Toppsegeln emporblickte. Mehr Leinwand als diese und den Klüver konnte das Schiff bei solcher Brise nicht verkraften.

Während seiner ganzen Zeit an Bord der Gorgon hatte Bolitho den Kapitän noch nie aus solcher Nähe gesehen wie jetzt. Von weitem wirkte er sehr kühl und würdevoll, anscheinend unberührt von dem Durcheinander der schimpfenden Deckoffiziere.

Dancer knirschte mit den Zähnen.»O Gott, ich bin ganz steif vor Kälte!»

Leutnant Hope, der Verantwortliche für den Fockmast, schrie:»Entern Sie mit Ihren Leuten auf, Mr. Bolitho! Und mindestens zwei Minuten schneller als letztes Mal!»

Eine Pfeife schrillte, und es ging wieder los. Die leichtfüßigen Toppmatrosen preschten um die Wette die Webeleinen hoch; die Neuen, weniger Wagemutigen mußten von den Flüchen und nicht selten auch von den Stockschlägen der Deckoffiziere hinaufgejagt werden. Und über all dem Lärm ertönte Verlings Stimme, verzerrt und kaum noch menschenähnlich, die jeden einzelnen kontrollierte und steuerte.

«Noch mal an die Luvbrassen! Mr. Tergorren, in Ihrer Division ist ein Mann, der bummelt! Wo, zum Teufel, haben Sie Ihre Augen? Noch zwei Mann an die Kreuzbrassen!«Unablässig schallte seine Stimme über das Deck.

Hinauf an diesen rauhen, schwankenden Webeleinen und um die Püttingswanten herum, und dann hingen sie da oben über die Breite des Schiffsrumpfes hinaus, unter sich die schäumende See, und klammerten sich fest mit Fingern und Zehen, damit sie nicht abstürzten. Dann atemlos weiter zum Vortopp, wo andere Männer schon höherenterten, und noch höher, bis zur Marssegelrahe. Auf allen Rahen schwärmten sie aus, affengleich, bearbeiteten mit Nägeln und Fäusten die dicke, steifgefrorene Leinwand, um noch ein Reff zu stecken; und dabei tat jeder windgefüllte Segelbauch sein Bestes, um die Männer von ihrem luftigen Standplatz zu schleudern und in die See zu fegen. Tränen der Wut und Verzweiflung hatten sie in den Augen, und sie fluchten gräßlich, wenn das rauhe Tuch der Sturmsegel ihnen die Fingernägel abriß, und stießen ihre verängstigten Kameraden beiseite, die sich an ihnen festklammern wollten.

Bolitho hielt sich an einer Pardune und beobachtete, was sich in den anderen Masten abspielte. Es war fast geschafft, und das Schiff reagierte bereits auf den verminderten Druck der Segel. Weit unten, zwergenhaft in der Verkürzung, sah er die Deckoffiziere und die Matrosen des Achterdecks, welche die Fallen und Brassen festzurrten. Immer noch stand der Kapitän an Luv und beobachtete prüfend die Rahen. War er besorgt? fragte sich Bolitho. Bestimmt sah man es ihm nicht an.

«Belegen, Mr. Hope!«brüllte Verling.»Da sind anscheinend ein paar Krüppel in Ihrer Division! Sie sollten heute vormittag mal Extra-Segelausbildung ansetzen!»

Bolitho und Dancer rutschten an einem Backstag an Deck, wo Mr. Hope vor Wut kochte.»Diese gottverdammte Bande mache ich fertig!«knurrte er. Mit einem Blick auf die beiden fuhr er etwas ruhiger fort:»Und euch zwei auch, wenn ihr die Leute nicht schärfer antreibt!»

Dann ging er nach achtern, und Bolitho sagte:»Er ist gar nicht so schlimm, wie er tut. Komm, Martyn, wollen mal sehen, was der junge Starr uns zum Frühstück aufgehoben hat. Sinnlos, jetzt noch mal in die Hängematte zu klettern. Es wird doch gleich wieder ›Alle Mann‹ gepfiffen.»

Als sie atemlos in die feuchte, aber wenigstens sichere Midshipmen-Messe stürzten, erwartete sie dort ein dürrer, gravitätisch blickender Mann im einfachen blauen Rock. Bolitho wußte bereits, daß es Henry Scroggs, der Kapitänsschreiber, war. Er hatte sein Logis nebenan bei der Steuermannsmaaten.

«Bolitho?«fragte Scroggs kurzangebunden. Eine Antwort wartete er nicht erst ab.»Melden Sie sich beim Kapitän. Mr. Marrack hat sich den Arm verletzt, und Mr. Grenfell ist auf Frühwache. «Unbewegten

Gesichts wartete er ein paar Sekunden und blaffte dann:»Na los, hopp-hopp, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!»

Bolitho starrte ihn verwirrt an; ihm fiel ein, was Marrack über saubere Hemden gesagt hatte, und er wußte, wie unordentlich er gerade jetzt aussah.

«Komm, ich helfe dir beim Umziehen«, sagte Dancer.

«Keine Zeit!«fuhr der Schreiber dazwischen.»Nach Grenfell und Marrack sind Sie der Dienstälteste. Der Kapitän ist sehr scharf in solchen Dingen. «Er schwankte etwas, als das Schiff langsam überholte und eine kochende See auf das Oberdeck flutete.»Etwas Beeilung, rate ich Ihnen!»

Bolitho griff nach seinem Hut und sagte beklommen:»Also schön. «Dann duckte er sich unter die Decksbalken und machte sich auf den Weg.

Schwer atmend stand Bolitho vor einer weißgestrichenen Tür in der Kampanje. Im Vergleich zu den überfüllten Zwischendecksquartieren, in die sich soeben massenweise und polternd die schattenhaften Gestalten der Matrosen ergossen, die von der Arbeit in den Rahen zurückkamen, fand er es hier ausgesprochen ruhig. Neben der Tür, unter dem Lichtstrahl der Deckenlaterne, stand steif und starr ein Seesoldat Wache und blickte Bolitho dienstlich kalt entgegen. Dann rief er laut:»Signal-Midshipman, Sir!«und gab seiner Meldung weiteren Nachdruck, indem er mit seiner Muskete kräftig aufs Deck stampfte.

Die Tür ging auf, und Bolitho erblickte den Kapitänssteward, der ihm heftig winkte und die Tür gerade so weit offenhielt, daß er eintreten konnte. Genau wie der Lakai in einem vornehmen Haus, der nicht recht weiß, ob der Besucher willkommen ist oder nicht, dachte Bolitho.

«Wenn Sie hier warten wollen — Sir. «Aber vor dem» Sir «hatte er eine kleine Pause eingeschaltet.

Bolitho wartete. Es war eine elegante Diele, die zum Speiseraum des Kapitäns führte und die ganze Breite des Schiffsrumpfes einnahm. Gläser und Geschirr klirrten in einem geräumigen Mahagonischrank, und über der langen polierten Tafel schwang gleichmäßig, die Bewegungen des Schiffes auffangend, ein rundes Tablett mit Gläsern und Karaffen. Auf den Decksplanken lag ein Teppich mit einem sauberen

Muster aus schwarzen und weißen Karos, und die Neunpfünderkanonen an den beiden Schmalseiten waren züchtig mit buntem Chintz verdeckt. In der nächsten Zwischenwand öffnete sich eine Tür, und der Steward sagte:»Hier herein, bitte, Sir. «Er blickte Bolitho beinahe verzweifelt entgegen.

Die Kapitänskajüte. Bolitho stand im Türrahmen, den Dreispitz unter den Arm geklemmt, und staunte. Wieviel Platz der Kapitän hatte!

Die Kajüte war hochelegant: über die hohen Fenster im Heck des Schiffes zogen sich lange Streifen von Salz und getrocknetem Schaum, so daß sie in dem grauen Frühlicht fast wie Kathedralenfenster wirkten und den Raum noch größer erscheinen ließen.

Kapitän Beves Conway saß an einem großen Schreibtisch und blätterte gemächlich in einem Bündel Papiere. Ein Becher mit einem heißen Getränk dampfte neben seinem Ellenbogen, und im Schein der schwingenden Lampe sah Bolitho, daß er bereits korrekt angekleidet war: sauberes weißes Hemd, Kniehose; und sein blauer Uniformrock mit den weißen Aufschlägen lag sauber gefaltet auf einer Sitzbank, Dreispitz und Bootsmantel daneben. Nichts in der Erscheinung oder im Gesicht dieses Mannes deutete darauf hin, daß er eben von Deck kam, wo ein bitterkalter Wind wehte.

Er blickte auf und musterte Bolitho mit ausdrucklosem Gesicht.

«Name?»

«Bolitho, Sir. «In der geräumigen Kajüte kam ihm der Klang seiner eigenen Stimme ganz fremd vor.

«Gut.»

Der Kapitän wandte sich halb zu seinem Schreiber um, der durch eine andere kleine Tür eintrat. Im Licht der Lampe und in den schrägen Strahlen von den Kajütfenstern her fiel Bolitho auf, wieviel Wachsamkeit und Intelligenz aus Conways Profil sprach; doch seine Augen waren hart und verrieten nichts.

Er sprach kurz, abgehackt, dienstlich zu Scroggs, aber Bolitho konnte nur raten, worum es sich handelte.

Er blickte zur Seite und sah sich zum erstenmal in einem langen, goldgerahmten Spiegel. Kein Wunder, daß der Kajütsteward ein so besorgtes Gesicht gemacht hatte.

Richard Bolitho war groß für sein Alter und schlank. Sein Haar war so schwarz, daß sein wettergebräuntes Gesicht fast bleich dagegen wirkte. In seinem Peajacket, das er sich vor achtzehn Monaten gekauft und seitdem bei jedem Wetter getragen hatte, glich er mehr einem Vagabunden als einem Offizier des Königs. Er fuhr zusammen, als er plötzlich gewahr wurde, daß der Kapitän zu ihm sprach.

«Also, Mr. Midshipman, äh, Bolitho, auf Grund unvorhergesehener Umstände muß ich mich anscheinend auf Ihre Fähigkeiten bei der Unterstützung meines Schreibers verlassen, bis Mr. Marrack sich von seiner, äh, Verletzung erholt hat. «Er musterte Bolitho gleichmütig.»Was für Dienst tun Sie auf meinem Schiff?»

«Unteres Geschützdeck, Sir, und Segelausbildung in Mr. Hopes Abteilung.»

«Weder das eine noch das andere erfordern, daß Sie wie ein Dandy aussehen, Mr., äh, Bolitho; aber an Bord meines Schiffes haben alle Offiziere ein untadeliges Beispiel zu geben; und wohin dieses Schiff Sie auch trägt, Sie repräsentieren nicht nur die Königliche Marine, sondern Sie sind die Königliche Marine!»

«Ich verstehe, Sir«, setzte Bolitho an.»Wir waren in den Rahen zum Segelbergen, Sir, und. .»

«Ja.«Über das Gesicht des Kapitäns flog der Schatten eines bitteren Lächelns.»Das habe ich befohlen. Ich war mehrere Stunden an Deck, bevor ich die Entscheidung traf, daß es tatsächlich nötig war. «Er zog eine schmale goldene Uhr aus der Hosentasche.»Gehen Sie in Ihr Logis im Orlopdeck und bringen Sie sich in Ordnung. Ich wünsche, daß Sie in zehn Minuten wieder achtern sind. «Er ließ die Uhr zuschnappen.»In genau zehn Minuten.»

Es wurden die kürzesten zehn Minuten, an die sich Bolitho erinnern konnte. Starr und Midshipman Dancer halfen ihm; der Pechvogel Eden, dem ausgerechnet in diesem Moment wieder schlecht wurde, lief ihm ständig zwischen die Beine; aber schließlich war er wieder auf dem Weg nach achtern und stand bald vor demselben Posten. In der Kajüte jedoch drängten sich bereits die Besucher: Leutnants mit Fragen und Meldungen über Sturmschäden. Der Steuermann, der, soweit Bolitho verstand, entweder für oder gegen die eventuelle Beförderung einer seiner Maate war. Major Dewar von der Marine-Infanterie, mit Kinnbacken so scharlachrot wie seine Uniform. Und sogar der Schiffs-Zahlmeister, ein richtiges Wiesel von einem Mann. Sie alle sprachen beim Kapitän vor. Und das schon kurz nach Sonnenaufgang.

Ohne weitere Umstände wies der Schreiber Bolitho an einen kleinen Tisch bei den Heckfenstern, an die Spritzwasser und Regen klatschten. Draußen, hinter den dicken Glasscheiben, rollte die dunkelgraue See, und jede Woge hatte einen langen Schaumstreifen auf ihrem Kamm. Ein Schwarm Möwen umkreiste in lebhaftem Auf und Ab den hohen Achtersteven der Gorgon; offenbar warteten sie darauf, daß der Koch etwas Eßbares aus dem Fenster warf. Bolitho spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Da würden sie kein Glück haben, dachte er. Der Koch und der geizige Zahlmeister beide würden kaum einen Krümel für die Möwen übriglassen.

Er hörte, daß der Kapitän mit Laidlaw, dem Schiffsarzt, das Frischwasserproblem erörterte, und speziell die Frage, ob die leeren Fässer gespült werden sollten, um sie zu desinfizieren.

Der Schiffsarzt war ein müde aussehender Mann mit tiefliegenden, von starken Brauen überhangenen Augen, der sich ständig etwas gebeugt hielt. Ob das daher kam, daß er zu lange auf kleinen Schiffen gefahren war, oder weil er sich dauernd über seine unglücklichen Opfer beugen mußte darüber konnte Bolitho nur Vermutungen anstellen.

Er sagte eben:»Es ist ein übler Küstenstrich, Sir. «Und der Kapitän erwiderte scharf:»Das weiß ich, verdammt noch mal. Aber schließlich segle ich das Schiff und seine ganze Mannschaft nicht deswegen nach Westafrika, weil ich ausprobieren will, wie gut Sie Krankheiten heilen können.»

Der Schreiber beugte sich über den kleinen Tisch. Er hatte einen muffigen Geruch an sich, wie ungewaschenes Bettzeug.

«Sie können mit diesen Befehlen anfangen«, sagte er mürrisch,»je fünf Abschriften, sauber und lesbar, ordentlich geschrieben, oder Sie kriegen Ärger mit dem Kapitän.»

Bolitho wartete, bis Scroggs davongeschlurft war, und horchte dann zu der kleinen Gruppe hinüber, die beim Kapitän stand. Während er sich vorhin in aller Eile das frische Hemd übergestreift hatte, war ihm klargeworden, daß sich die Ehrfurcht, die er bei der ersten Begegnung mit dem Kapitän empfunden hatte, in Groll verwandelte. Conway hatte die Begründung für seinen unvorschriftsmäßigen Anzug als unwichtig, sogar als banal abgetan. Statt dessen hatte er seine eigene Person als Vorbild hingestellt — der untadelige Kapitän, immer im Dienst, niemals müde, der für jedes Problem auf Anhieb eine Lösung bei der Hand hatte.

Aber jetzt, da er die ruhige, gemächliche Stimme hörte, mit der der Kapitän so ganz nebenbei erwähnte, daß einige viertausend Meilen zu segeln waren, wie er Angaben über den zweckmäßigsten Kurs machte und Anordnungen über Verpflegung, Frischwasser und, was das Wichtigste zu sein schien, über die Ausbildung der Mannschaft traf — da konnte er nur staunen.

In dieser Kajüte, die ihm ein paar Minuten lang wie der Gipfel allen Luxus vorgekommen war, schlug der Kapitän seine eigenen, privaten Schlachten. Er konnte seine Sorgen, seine Verantwortung mit niemandem teilen. Ein Schauer überlief Bolitho. Für einen Mann, der auch nur eine Sekunde an sich selbst zweifelte, konnte diese große Kajüte sehr leicht zum Gefängnis werden.

Er erinnerte sich an seine Kindheit. Manchmal, wenn das Schiff seines Vaters — was freilich sehr selten und nur unter günstigen Umständen vorkam — in Falmouth vor Anker lag, hatte er seinen Vater dort besuchen dürfen. Wie anders war das gewesen! Seines Vaters Offiziere lächelten ihm freundlich zu; manche benahmen sich direkt unterwürfig ihm gegenüber. Wie änderte sich das, als er seinen Dienst als Midshipman antrat! Wie hochfahrend, wie unduldsam waren die Leutnants!

Scroggs stand wieder neben ihm.»Bringen Sie diese Order dem Bootsmann, und kommen Sie gleich zurück!«Er drückte ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier in die Hand.

Bolitho nahm seinen Hut auf und ging eilig an dem großen Schreibtisch vorbei. Er war schon beinahe zur Tür hinaus, da ließ ihn die Stimme des Kapitäns erstarren.

«Wie, sagten Sie, war Ihr Name?»

«Bolitho, Sir.»

«Sehr schön. Ab mit Ihnen, und denken Sie an das, was ich gesagt habe!«Conway blickte auf seine Papiere nieder und wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte.

Als er wieder auf- und den Schiffsarzt ansah, bemerkte er kurz:

«Wenn man einen neuen Midshipman zuhören läßt, weiß das ganze Schiff sofort, was man vorhat.»

Der Schiffsarzt sah ihn ernsthaft an.»Ich glaube, ich kenne die Familie dieses jungen Mannes, Sir. Sein Großvater war mit Wolfe vor Quebec.»

«Was Sie nicht sagen. «Conway studierte bereits das nächste Schriftstück.

«Er war Konteradmiral, Sir«, fügte der Schiffsarzt leise hinzu.

Aber Conway war in Gedanken schon ganz woanders, wie sein gelindes Stirnrunzeln andeutete.

Der Schiffsarzt seufzte. Kapitäne waren eben völlig unnahbar.