»Mannnnn«, brüllte er, als sie zu ihm aufschloß.
Lachend flog Gwen an ihm vorbei und schlug ihm dabei herzhaft auf den Rücken. Das reichte, um ihn wieder umkippen zu lassen. Wild rudernd schlug er am Himmel über Larteyn ein Rad nach dem anderen.
Gwen war hinter ihm und rief ihm etwas zu. Dirk sah zur Seite und bemerkte, daß er nahe daran war, in einen Ebenholzturm zu krachen. Er bediente die Kontrollen und schoß senkrecht nach oben, noch immer um eine passable Haltung kämpfend.
Hoch über der Stadt kam er zum aufrechten Stand, als sie ihn einholte. »Bleib ja weg«, warnte er sie grinsend, wobei er sich ein bißchen dumm und ungeschickt, aber ausgelassen fühlte. »Wenn du mich noch einmal umwirfst, werde ich den Flugpanzer holen und dich vom Himmel lasern, Mädchen!« Er wich nach einer Seite aus, fing sich aber zu stark ab und pendelte aufschreiend zur anderen Seite.
»Du bist betrunken«, schrie ihm Gwen durch den schneidenden Wind zu. »Zuviel Bier zum Frühstück.«
Nun war sie über ihm und beobachtete — die Arme vor der Brust verschränkt — mit spöttischer Herablassung seine Anstrengungen.
»Auf mich macht alles einen solideren Eindruck, wenn man mit dem Kopf nach unten hängt«, rief Dirk. Endlich schien er so etwas wie eine Balance gefunden zu haben — obwohl er sich ihrer nicht allzu sicher war, denn er hielt die Arme weit ausgestreckt wie ein Seiltänzer.
Gwen kam auf seine Höhe herunter und flog zuversichtlich und mit sicherem Stand neben ihm. Ihr Haar flatterte wie ein lustiges schwarzes Banner hinter ihr her. »Wie kommst du zurecht?« schrie sie, als sie auf gleicher Höhe nebeneinanderflogen.
»Ich glaube, ich hab’s geschafft!« verkündete Dirk. Er stand noch immer aufrecht.
»Gut. Schau hinunter!«
Er sah hinab, vorbei an dem schmalen Stück Sicherheit unter seinen Füßen. Larteyn mit seinen dunklen Türmen und verglimmenden Glühsteinstraßen war nicht mehr zu sehen. Statt dessen sah er durch den leeren Zwielichthimmel das Freigelände tief, tief unter sich.
Dort unten erspähte er einen Fluß, einen Faden wandernden dunklen Wassers inmitten spärlich erleuchteten Grüns. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Er ballte die Hände zu Fäusten und … kippte wieder um.
Diesmal tauchte Gwen unter ihm durch, während er herabhing. Sie verschränkte erneut die Arme und lachte ihn schadenfroh an. »Du bist mir vielleicht eine Pfeife, t’Larien«, hielt sie ihm vor. »Warum fliegst du eigentlich nie richtig herum?«
Er wollte etwas Unfreundliches sagen, versuchte es zumindest, aber der Wind nahm ihm den Atem. So konnte er nur Grimassen schneiden. Dann brachte er sich wieder in die richtige Position. Langsam wurden ihm von diesen Manövern die Knie weich. »Dort!« rief er und blickte trotzig nach unten, um zu beweisen, daß ihm die Höhe kein zweites Mal etwas ausmachte.
Gwen war wieder neben ihm. Sie musterte ihn kritisch und nickte dann. »Du bist eine Schande für alle Kinder von Avalon — und überhaupt für alle Himmelsflitzer«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich wirst du es überleben.
Willst du jetzt die Wildnis kennenlernen?« »Flieg voran, Jenny!«
»Dann wende gefälligst, wir sind nämlich auf dem falschen Weg. Wir müssen die Berge überfliegen.« Sie streckte ihre freie Hand aus und nahm die seine.
Gemeinsam schwangen sie in einer weiten, aufwärtsge-richteten Spirale herum, auf Larteyn und das Bergmassiv zu. Von weitem sah die Stadt grau und verwaschen aus, ihre stolzen Glühsteine schimmerten schwarz im Sonnenlicht. Die Berge erhoben sich dunkel und bedrohlich.
Hand in Hand flogen sie darauf zu und gewannen ständig an Höhe, bis sie sich weit über der Feuerfeste befanden, hoch genug, um die Gipfel zu überqueren. Das war schon fast die Spitzenhöhe der Himmelsflitzer, ein Luftgleiter schaffte so etwas natürlich spielend. Aber für Dirk war es hoch genug. Die Overalls aus Chamäleonstoff waren ganz grau und weiß geworden, und er war dankbar für die Wärme, die sie spendeten.
Der Wind war bitterkalt, und der seltsame Worlorntag brachte kaum mehr Wärme als die Nacht. Sich weiter bei den Händen haltend, von Zeit zu Zeit Bemerkungen austauschend und sich gegen den Wind stemmend, flogen Gwen und Dirk einen Berghang hinauf und dann den gegenüberliegenden Abhang in ein schattiges Felstal hinunter. Wieder hoch und hinunter und noch einmal, vorbei an messerscharfen Zacken aus grünem und schwarzem Fels, vorbei an tiefstürzenden, schmalen Wasserfällen und noch schwindelerregenderen Abgründen. Einmal forderte ihn Gwen zu einem Wettfliegen heraus. Er rief ihr seine Einwilligung zu, und beide schossen, so schnell es ihre Flitzer und ihr Geschick erlaubten, durch die Lüfte, bis Gwen schließlich Mitleid für ihn empfand, zurückkam und ihn wieder bei der Hand nahm. So plötzlich, wie sie sich im Osten erhoben hatte, fiel die Bergkette im Westen ab.
Hinter ihnen erhob sich nun eine hohe Barriere, die das Licht des ständig steigenden Rades noch nicht gänzlich in die Wildnis vordringen ließ. »Hinab«, sagte Gwen. Er nickte, und sie begannen den langsamen Abstieg in den grünen Wirrwarr unter ihnen. Mehr als eine Stunde lang waren sie in der Luft gewesen. Dirks Körper protestierte gegen diese Mißhandlung, der frostige Wind auf Worlorn hatte seine Glieder fast taub werden lassen.
Sie landeten ein gutes Stück innerhalb des Waldes neben einem See, den sie schon von oben ausgemacht hatten. Gwen stieß anmutig in einer sanften Kurve hinab und kam an einem bemoosten Strand direkt am Wasser zum Stillstand. Dirk hatte Angst, im Sand eine Bruchlandung zu machen und sich dabei womöglich ein Bein zu brechen. Er schaltete den Neutralisator einen Moment zu früh ab und stürzte aus einem Meter Höhe auf den Boden.
Gwen half ihm, die Stiefel vom Himmelsflitzer zu lösen. Gemeinsam klopften sie feuchten Sand und Moos aus seinem Anzug und Haar. Dann setzte sie sich neben ihn und lachte. Er lächelte zurück und küßte sie. Das heißt, er versuchte es. Als er ihr den Arm um die Schultern legen wollte, wich sie vor ihm zurück, und er erinnerte sich wieder an alles. Seine Hände fielen von ihr ab, und ein desillusionierter Zug zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Es tut mir leid«, murmelte er stockend. Er vermied ihren Blick und sah auf den See hinaus. Das Wasser war grün und wirkte ölig. Die ruhige Oberfläche war von violetten Algeninselchen übersät.
Das kaum wahrnehmbare Gewimmel der Insekten, die über den seichten Stellen hin und her schwirrten, bildete die einzige Bewegung. Im Wald war es sogar noch dunkler als in der Stadt, denn die Berge verdeckten den größten Teil der Sonnenscheibe des Fetten Satans. Gwen streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter.
»Nein«, sagte sie sanft. »Es tut mir leid. Ich hatte es vergessen. Es war fast wie auf Avalon.«
Er sah sie an und zwang sich zu einem schwachen Lächeln, obwohl er sich verloren fühlte. »Ja, fast. Ich habe dich vermißt, Gwen, trotz allem. Oder sollte ich das nicht sagen?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. Wieder mieden ihre Augen die seinen und streiften hinaus über den See. Das gegenüberliegende Ufer lag im Dunst verborgen. Lange Zeit starrte sie in die Ferne und bewegte sich nicht, bis auf ein einziges Mal, wo sie plötzlich vor Kälte erschauerte. Dirk beobachtete, wie ihre Kleidung langsam fahlgrün, dann weiß wurde, um sich der Bodenfarbe der Umgebung anzupassen. Endlich wollte er sie mit unsicherer Hand berühren. Sie schüttelte ihn ab.
»Nein.«
Dirk seufzte. Er nahm eine Handvoll kühlen Sand auf und ließ ihn durch die Finger rinnen, während er nachdachte. »Gwen!« Er zögerte. »Jenny, ich weiß nicht…«