Nein, er ist ihr Gefängniswärter. Genau das ist er, das sind sie beide, er und Garse. Liebende Gefängniswärter meinetwegen, wenn Sie denken, daß solche Leute zu echter Liebe in unserem Sinne fähig sind. Jaantony verehrt unsere Gwen, und das sollte er auch tun. Denn ihr hat er zu verdanken, daß er Hoch-Eisenjade und sie sein betheyn-Geschenk ist. Wenn sie stirbt oder ihn verläßt, ist er Frei-Eisenjade, ein alter Mann, verspottet, mit leeren Armen, ohne Stimme im Rat. Aber er macht sie zu seiner Sklavin und liebt sie nicht. Jahre nach Avalon ist sie nun älter und weiser, und nun weiß sie alles.« Den letzten Satz hatte Ruark in atemloser Wut hervorgestoßen, seine Lippen waren eng zusammengekniffen. Dirk zögerte. »Dann liebt er sie also nicht?«
»Ein Hochleibeigener liebt seine betheyn, wie man sein Eigentum liebt. Jade-und-Silber sind ein enger Bund, der nie gebrochen wird, aber es ist ein Bund der Verpflichtungen und des Besitzes. Keine Liebe. Falls die Kavalaren so etwas überhaupt empfinden, dann gegenüber ihrem Wahlbruder, dem Schild- und Seelenpartner, dem Liebhaber und Kriegszwilling, dem immer ergebenen Freudenbringer, Schlägenehmer und Schmerzlinderer, dem lebenslangen Starkbund.«
»Teyn«, sagte Dirk benommen. Seine Gedanken rasten.
»Teyn!« nickte Ruark. »So streitsüchtig die Kavalaren auch sind, so besitzen sie doch eine großartige Dichtkunst. Viele Werke feiern den teyn, den Bund von Eisen-und-Glühstein, aber kein Werk ist Jade-und-Silber gewidmet.«
Die Puzzlestücke paßten nahtlos ineinander. »Sie sagen«, begann Dirk, »daß Gwen und Jaan einander nicht lieben und sie nichts als seine Sklavin ist. Dennoch verläßt sie ihn nicht?«
Ruarks rundliches Gesicht errötete. »Ihn verlassen?
Völliger Unsinn! Sie würden sie doch zur Rückkehr zwingen. Ein Hochleibeigener muß seine betheyn behalten und beschützen. Und denjenigen töten, der sie zu stehlen versucht.«
»Und sie sandte mir das Juwel …«
»Ich weiß, Gwen vertraut sich mir an. Welche andere Hoffnung hat sie denn noch? Die Kavalaren? Jaantony hat in Duellen zweimal getötet. Kein Kavalare würde sie anrühren. Und wenn schon, was würde es nützen? Und ich? Bin ich eine Hoffnung?« Seine weichen Hände glitten an seinem Körper herab, und er strafte sich durch diese Geste selbst mit Geringschätzung. »Sie allein, t’Larien, Sie sind Gwens Hoffnung. Sie haben diese Frau einst besessen. Sie haben Gwen einst geliebt.«
Wie aus weiter Ferne hörte Dirk seine eigene Stimme:
»Ich liebe sie noch immer.«
»Gut. Ich glaube, Sie wissen, daß Gwen …, obwohl sie es niemals sagen würde …, daß sie noch so fühlt wie früher und für Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary nie viel empfunden hat?« Sein Getränk, dieser fremdartige grüne Wein, hatte ihm schwerer zugesetzt als erwartet. Nur ein Glas, ein einziges hohes Glas, und der Raum begann seltsamerweise um ihn zu kreisen. Mit einiger Anstrengung hielt sich Dirk t’Larien aufrecht, hörte merkwürdige Dinge und begann sich zu wundern.
Ruarks Gerede ergab keinen Sinn, dachte er. Aber dann erschien ihm alles wieder nur zu stimmig. Damit erklärte sich wirklich alles, wurde sonnenklar. Klar war auch, was Dirk tun mußte. Oder etwa nicht? Der Raum waberte, wurde dunkel und erhellte sich dann wieder, dunkel und wieder hell. In einer Sekunde war sich Dirk absolut sicher, und in der nächsten begriff er überhaupt nichts mehr. Was mußte er tun? Etwas … etwas für Gwen. Er mußte die Wahrheit herausfinden und dann …
Er führte eine Hand zur Stirn. Unter den herabhängenden graubraunen Locken stand ihm der Schweiß über den Augenbrauen. Plötzlich erhob sich Ruark und beugte sich über ihn. Sein Gesicht hatte einen erschreckten Ausdruck angenommen. »Oh«, sagte der Kimdissi, »der Wein hat Sie krank gemacht. Ich bin ein völliger Narr! Mein Fehler. Wein von den Außenwelten und ein Magen von Avalon, das geht nicht. Essen wird helfen, wissen Sie: Essen.« Er hastete davon und berührte dabei eine Topfpflanze. Schwarze Speere zuckten und tanzten hinter ihm her.
Dirk saß ganz still. Weit entfernt vernahm er das Klappern von Schüsseln und Töpfen, aber er verschwendete keinen Gedanken daran. Noch immer schwitzend, versuchte er nachzudenken, was ihm aber seltsamerweise sehr schwerfiel. Die Logik entwischte ihm immer wieder, und die klarsten Einsichten verblaßten, sobald er sich auf sie konzentrieren wollte. Er zitterte, während längst vergrabene Träume zu neuem Leben erwachten, während die Würgerwälder in seinem Geist dahinstarben und über den frisch blühenden Nachmittagswäldern von Worlorn das Rad heiß und feurig brannte. Er konnte es geschehen machen, es zwingen, es wecken, dem langen Sonnenuntergang ein Ende bereiten, und Jenny, seine Guinevere, ewig an seiner Seite haben. Ja! Ja! Als Ruark mit Gabeln und Schüsseln, gefüllt mit weichem Käse, roten Knollen und heißem Fleisch, zurückkam, war Dirk wieder ruhiger geworden, hatte sich gefangen. Er nahm die Schüsseln entgegen und aß halb in Trance, während sein Gastgeber weiterplapperte. Morgen, schwor er sich. Morgen würde er sie beim Frühstück treffen, mit ihnen reden und soviel wie möglich von der Wahrheit herausfinden. Dann konnte er handeln. Morgen …
»… nicht beleidigend gemeint«, sagte Vikary gerade.
»Lorimaar, Ihr seid kein Narr, aber hierbei handelt Ihr unvernünftig — glaubt es mir!«
Wie erstarrt blieb Dirk im Eingang stehen. Die schwere, hölzerne Tür, die er ahnungslos geöffnet hatte, schwang vor ihm auf. Alle wandten sich dem Neuankömmling zu, vier Augenpaare. Vikary folgte zuletzt, nicht ohne zu beenden, was er zu sagen im Begriff gewesen war. Bevor sie in der Nacht auseinandergegangen waren, hatte ihn Gwen aufgefor-dert, zum Frühstück einfach hinaufzukommen. Das galt nur für ihn, denn Ruark und die Kavalaren vermieden ein Zusammentreffen, wann immer dies möglich war. Die Zeit war genau richtig, kurz nach Sonnenaufgang. Aber mit dieser Szenerie hatte er nicht gerechnet. Vier Menschen hielten sich in dem höhlenartigen Wohnzimmer auf. Gwen saß mit ungebürstetem Haar und schlaftrunkenen Augen auf dem Rand der niedrigen Couch aus Holz und Leder, die vor dem Kaminfeuer mit den wachenden Wasserspeiern stand. Direkt hinter ihr verharrte Garse Janacek, mürrisch dreinblickend und mit verschränkten Armen, während sich Vikary und ein Fremder vor dem Kamin aufhielten. Alle drei Männer trugen formelle Kleidung und Waffen. Janaceks Beinkleider und das Hemd waren von feinern, holzkohlegrauem Material, mit einem hohen Kragen und einer Doppelreihe schwarzer Eisenknöpfe entlang der Brust. Der rechte Ärmel seines Hemdes war entfernt worden, um den schweren Eisen-Armreif und die schwach funkelnden Glühsteine zu entblößen. Vikary war ebenfalls in Grau, trug aber keine Knopfreihen. Sein Hemd besaß vorn einen V-Ausschnitt, der fast bis zum Gürtel reichte. Von der dunkelbehaarten Brust hob sich ein Jademedaillon mit einer eisernen Kette ab.
Der Fremde wandte sich zuerst an Dirk. Er stand mit dem Rücken zum Eingang, hatte sich aber umgedreht und mißbilligend zur Tür geblickt, als die anderen aufsahen.
Er war einen Kopf größer als Vikary und Janacek, und selbst aus dieser Entfernung von mehreren Metern schien er noch auf Dirk herabzusehen. Seine Haut war dunkelbraun und kontrastierte stark mit dem milchweißen Anzug, den er unter den Falten eines violetten Halbcapes trug. Graues Haar mit weißen Strähnen fiel ihm auf die breiten Schultern, und seine Augen — wahre Feuersteine aus Obsidian in einem braunen Gesicht mit hundert Linien und Fältchen - waren nicht freundlich. Das konnte man von seiner Stimme auch nicht sagen. Er musterte Dirk, dann sagte er ganz einfach: »Raus hier!« »Was?« Keine Antwort hätte dümmer sein können als diese, dachte Dirk im gleichen Moment, aber sonst fiel ihm nichts ein. »Raus hier, sagte ich«, wiederholte der Riese in Weiß. Wie bei Vikary, so waren auch bei ihm beide Unterarme entblößt, um die zwei Armreifen, Jade-und-Silber an seinem linken und Eisen-und-Feuer an seinem rechten Arm, zu demonstrieren. Aber Muster und Machart der Schmuckstücke des Fremden unterschieden sich stark von den anderen. Nur die Waffe an seiner Hüfte glich den Waffen der anderen aufs Haar.