»Nun«, begann Dirk, der vernünftig zu bleiben versuchte und deshalb einlenkte, »ich danke Ihnen für die Entschuldigung, aber sie reicht mir noch nicht ganz. Ich weiß immer noch nicht, was eigentlich los ist. Wer ist Lorimaar? Was wollte er? Und warum soll ich vor ihm beschützt werden?«
Seufzend ließ Vikary Dirks Arm los. »Es wird mir nicht leichtfallen, Ihre Fragen zu beantworten. Ich muß Ihnen von der Geschichte meines Volkes erzählen, jenes bißchen, das ich weiß und vieles, was ich nur vermute.«
Er wandte sich an Gwen. »Falls niemand etwas dagegen hat, können wir während der Unterhaltung essen. Holst du uns etwas?« Sie nickte und ging. Einige Minuten später kam sie mit einem großen Tablett zurück, auf dem sich schwarzes Brot, drei Sorten Käse und hartgekochte Eier in leuchtendblauen Schalen türmten. Bier war natürlich auch dabei. Auf die Ellbogen gestützt, lehnte sich Vikary über den Tisch. Während die anderen aßen, sprach er.
»Hoch Kavalaan ist eine Welt voller Gewalt gewesen«, begann er. »Sieht man einmal von der Vergessenen Kolonie ab, so ist sie die älteste der Außenwelten — und jede ihrer zahlreichen Geschichtsaufzeichnungen ist eine Geschichte des Kampfes. Traurig, aber wahr ist, daß unsere Geschichtsschreibung zum großen Teil erfunden ist und aus Legenden besteht, die mit ethnozentrischen Lügen gespickt sind. Dennoch glaubte man diese Schauergeschichten bis in jene Zeit hinein, als nach dem Interregnum wieder Sternenschiffe landeten.
In den Festhalten der Eisenjadeversammlung zum Beispiel lehrte man die Jungen, daß das Universum aus nur dreißig Sternen bestünde, in deren Mitte sich Hoch Kavalaan befände. Von dorther stamme die Menschheit, die mit der Geburt von Kay Eisen-Schmied und dessen teyn Roland Wolf-Jade, die der Vereinigung eines Vulkans mit einem Gewittersturm entwuchsen, ihren Anfang nahm. Dampfend entstiegen sie dem Schlund des Vulkans und traten in eine Welt voller Dämonen und Monster. Viele Jahre wanderten sie umher und mußten mannigfaltige Abenteuer bestehen. Schließlich entdeckten sie eine tiefe Höhle am Fuße eines Berges, und in ihr fanden sie ein Dutzend Frauen, die ersten Frauen auf der Welt. Die Frauen fürchteten sich vor den Dämonen und trauten sich nicht hinaus. Deshalb blieben Kay und Roland, nahmen sich die Frauen mit Gewalt und machten sie zu eyn-kethi. Die Höhle wurde zu ihrem Festhalt, die Frauen schenkten ihnen viele Söhne, und so begann die kavalarische Zivilisation.
Der Pfad nach oben war nicht leicht, heißt es in den Geschichten. Die Jungen, welchen die eyn-kethi das Leben schenkten, entstammten alle dem Samen von Kay und Roland. Sie waren heißblütig, gefährlich und von starker Willenskraft. Oft gab es Streit. Ein Sohn, der verschlagene und hinterlistige John Kohlen-Schwarz, tötete gewohnheitsmäßig seine kethi, seine Festhaltbrüder, in Eifersuchtsanfällen, weil er nicht so gut jagen konnte wie sie. Dann fiel er über ihre Körper her und fraß sie auf, weil er auf diese Weise ihre Stärke und ihre Fertigkeiten zu erlangen trachtete. Eines Tages fand ihn Roland bei einem solchen Mahl. Er schlug das Kind mit einem großen Dreschflegel und jagte es über die Berge. Danach kehrte John nicht nach Eisenjade zurück, sondern gründete in einem Kohlenbergwerk seinen eigenen Festhalt und nahm einen Dämon zum teyn. Das war der Ursprung der kannibalischen Hochleibeigenen des Tiefkohlenhorts.
Auf ähnliche Weise wurden auch andere Festhalte gegründet, obgleich die Geschichtsschreibung von Eisenjade den anderen Rebellen erheblich mehr Platz einräumt als dem Schwarzen John. Roland und Kay waren strenge Herren, unter denen sich nicht leicht leben ließ. Shan, der Schwertkämpfer beispielsweise, war ein guter, starker Junge, der nach einem wilden Kampf mit Kay, der sein Jade-und-Silber nicht anerkennen wollte, mit teyn und betheyn von dannen zog. Shan war der Gründer des Shanagate-Trutzes. Eisenjade erkennt seine Nachkommenschaft als vollständig menschlich an und hat darüber nie anders gedacht. So war es mit fast allen großen Festhalten. Jene, die ausstarben wie der Tiefkohlenhort, kamen in den Legenden schlechter weg.
Diese Legenden sind recht ausführlich, und viele sind amüsant. Da ist zum Beispiel die Geschichte der ungehorsamen kethi. Die ersten Eisenjade wußten, daß ein Mann nur unter Fels eine rechte Wohnung haben kann, in einem Bollwerk aus Stein, einer Höhle oder einem Stollen. Diejenigen jedoch, welche später kamen, glaubten das nicht. Ihren naiven Augen erschienen die Ebenen offen und einladend, so gingen sie mit ihren eyn-kethi und den Kindern hinaus und errichteten hohe Städte. Ihr Wahn sollte bestraft werden. Feuer fiel vom Himmel und vernichtete sie, verbog und schmolz die Türme, die sich emporgereckt hatten, verbrannte die Stadtmenschen und ließ die Überlebenden in Panik unter die Erde flüchten, wohin die Flammen sie nicht verfolgen konnten. Und als ihre eyn-kethi niederkamen, waren die Kinder zu Dämonen geworden und nicht mehr dem Menschen gleich. Manchmal fraßen sie sich ihren Weg aus der Gebärmutter frei.«
Vikary hielt inne, um aus seinem Krug zu trinken.
Dirk, der sein Frühstück fast beendet hatte, warf einige Krümel Käse achtlos auf seinen Teller und zog die Stirn in Falten. »Das ist alles faszinierend«, sagte er, »aber ich fürchte, ich sehe die Verbindung zu unserem Problem nicht.«
Vikary trank noch einmal und nahm einen schnellen Bissen Käse. »Nur Geduld«, meinte er.
»Dirk«, sagte Gwen gequält, »die Geschichtsschreibung der vier überlebenden Festhaltkoalitionen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht, aber zu zwei großen Ereignissen gibt es übereinstimmende Berichte. Das sind die Meilensteine der kavalarischen Mythen. Alle besitzen sie eine Version der letzten Geschichte — dem Brand der Städte. Man nennt sie Zeit des Feuers und der Dämonen. Eine spätere Geschichte, die Leidbringende Plage, existiert ebenfalls, beinahe Wort um Wort identisch, in jedem Festhalt.«
»Das ist wahr«, sagte Vikary. »Diese Geschichten — sie waren die einzigen Zeugnisse früherer Tage, die man mir zur Arbeit an die Hand gab. Zur Zeit meiner Geburt glaubte kein geistig normaler Kavalare auch nur eine davon.«
Gwen hüstelte höflich. Vikary warf ihr einen Seitenblick zu und lächelte. »Ja, Gwen verbessert mich«, sagte er, »wenige geistig normale Kavalaren glaubten sie.« Dann fuhr er fort: »Aber die Zweifler hatten nichts, das sie glauben konnten, es stand keine alternative Wahrheit zur Auswahl. Den meisten machte das nicht sehr viel aus. Als der Sternenflug wieder aufgenommen wurde und die Wolfmenschen, Toberianer und später die Kimdissi nach Hoch Kavalaan kamen, fanden sie uns begierig vor, die verlorenen Künste der Technologie wieder zu erlernen. Und das lehrten sie uns als Ausgleich für unsere Schmuckstücke und Schwermetalle. Bald hatten wir auch Sternenschiffe, aber noch immer keine Geschichte.« Er lächelte. »Während meiner Studien auf Avalon fand ich einige Wahrheiten über uns heraus. Es war wenig genug, und doch reichte es aus. In den großen Datenbänken der Akademie versteckt, fand ich Aufzeichnungen der ursprünglichen Kolonisierung von Hoch Kavalaan.
Es war schon gegen Ende des Doppelkrieges. Eine Gruppe von Siedlern brach von Tara auf und steuerte eine Welt jenseits von Templers Schleier an, wo sie Sicherheit vor den brutalen Hranganern und deren Sklavenrassen zu finden hofften. Das gelang ihnen auch einige Zeit lang, wie den Speichern der Computer zu entnehmen ist. Sie entdeckten einen urwüchsigen und fremdartigen Planeten, der reiche Bodenschätze versprach. Auf ihm entwickelte sich schnell eine Kolonie ersten Grades, die sich auf den Abbau von Rohstoffen stützte. Es gibt Aufzeichnungen über Handelsbeziehungen zwischen Tara und der Kolonie. Sie währten mehr als zwanzig Jahre, dann verschwand der Planet hinter dem Schleier urplötzlich aus den Annalen der menschlichen Geschichte. Auf Tara maß man dieser Tatsache nur wenig Gewicht bei, denn man befand sich mitten in den grausamsten Kriegsjahren.«