»Und Sie denken, bei diesem Planeten handelte es sich um Hoch Kavalaan?« fragte Dirk.
»Das darf man als Tatsache ansehen«, erwiderte Vikary. »Die Koordinaten stimmen in etwa überein, und auch andere faszinierende Einzelinformationen passen genau ins Bild. Die Kolonie hieß zum Beispiel Cavanaugh. Und was vielleicht noch nachdenklicher stimmt ist der Umstand, daß der Leiter der ersten Expedition ein Raumschiffkapitän namens Kay Schmied war. Eine Frau.« Gwen mußte lächeln.
»Ich habe aber noch mehr herausgefunden«, fuhr Vikary fort, »und zwar rein zufällig. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten Außenwelten niemals am Doppelkrieg teilnahmen. Die Randzivilisationen sind Kinder des Zusammenbruchs, manche stammen sogar aus der Zeit danach. Kein Kavalare hat je einen Hranganer gesehen, geschweige denn ein Individuum der verschiedenen Sklavenrassen. Bei mir war es dasselbe, bis ich nach Avalon ging und mich für die Menschheitsgeschichte im größeren Rahmen zu interessieren begann. Dann, als ich die Auseinandersetzungen im Wirrwarr in näheren Augenschein nahm, stieß ich glücklicherweise auf gezeichnete Darstellungen der verschiedenen halbintelligenten Sklaven. Die Hranganer setzten sie als Sturmtruppen auf solchen Welten ein, die ihnen nicht wichtig genug erschienen, um selbst einzugreifen. Als Mensch, der im Wirrwarr zu Hause ist, werden Sie diese Rassen sicherlich kennen, Dirk. Etwa die Hruun, Nachtwesen und überschwere Kämpfer von unglaublicher Brutalität und Wildheit, die mit ihren Augen einen erheblichen Teil des Infrarotbereichs erfassen können. Oder die geflügelten Dactyloiden, die ihren Namen wegen der zufälligen Ähnlichkeit mit einer Flugechse aus der menschlichen Frühzeit erhielten. Und am schlimmsten von allen dürften die Githyanki gewesen sein, Seelensauger, Wesen mit schrecklichen psionischen Kräften.«
Dirk nickte. »Auf meinen Reisen habe ich ein oder zwei Hruun gesehen. Die anderen Rassen sind ausgestorben, soviel ich weiß.« »Das mag richtig sein«, sagte Vikary. »Die Zeichnungen, von denen ich sprach, habe ich mir lange angesehen und bin immer wieder auf sie zurückgekommen. Irgend etwas an ihnen ließ mir keine Ruhe. Schließlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Hruun, die Dactyloiden, die Githyanki — in mehr oder weniger deutlich hervortretenden charakteristischen Details glichen sie jenen Wasserspeiern, die vor den Türen eines jeden kavalarischen Festhalts angebracht sind. Sie waren die Dämonen unserer Mythen und Sagen, Dirk!«
Vikary erhob sich und begann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen. Währenddessen sprach er ruhig und gleichmäßig weiter, seine Erregung war nur aus seinem ruhelosen Gang abzulesen. »Als Gwen und ich nach Eisenjade zurückkehrten, veröffentlichte ich meine Theorie, die sich auf die alten Legenden, etwa den Dämonenlied-Zyklus des großen Dichters und Abenteurers Jamis-Löwe Taal, und die Datenbänke der Akademie stützte. Stellen Sie sich vor: Die Kolonie Cavanaugh ist errichtet. Auf dem ebenen Land sind Städte entstanden, und in ausgedehnten Berg-werksanlagen hat man mit der Förderung begonnen.
Durch ein atomares Bombardement legen die Hranganer die Städte in Schutt und Asche. Überlebende gibt es nur in tiefen Kellern unter der Stadt, draußen in der Wildnis und in den Minen. Um den Planeten zu erobern, kommandieren die Hranganer Kontingente ihrer Sklavenrassen zur Invasion ab. Später verschwinden die Besatzer und tauchen erst ein Jahrhundert später wieder auf. Die Minen werden zu den ersten Festhalten, andere baut man später tief in die Berge hinein. Ohne Rückhalt aus den Städten fallen die Bergarbeiter in ein primitiveres technologisches Entwicklungsstadium zurück, und schon bald etabliert sich eine autoritäre, auf das nackte Überleben ausgerichtete Kultur. Generationenlang führen sie untereinander und gegen die Sklavenrassen Krieg.
Zur gleichen Zeit beginnen sich unter den radioaktiven Ruinen der Städte menschliche Mutationen zu regen …«
Jetzt stand Dirk auf. »Jaan«, sagte er.
Vikary unterbrach sein würdevolles Schreiten, wandte sich um und sah Dirk fragend an.
»Bisher habe ich mich mühsam zurückgehalten«, platzte Dirk heraus. »Und ich will auch gern glauben, daß dies alles für Sie von enormer Wichtigkeit ist. Schließlich ist es ihre Forschungsarbeit. Aber ich hätte gerne einige Fragen beantwortet bekommen — und zwar sofort.« Er hob die Hand und zählte die Fragen an den Fingern ab.
»Wer ist Lorimaar? Was wollte er? Und warum muß ich vor ihm geschützt werden?« Gwen erhob sich ebenfalls.
»Dirk«, begann sie, »Jaan liefert dir doch nur die Hintergrundinformationen, die du zum Verständnis der Sachlage benötigst. Sei nicht so …«
»Nein!« Vikary brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Nein, t’Larien hat recht, ich werde immer zu enthusiastisch, wenn ich von diesen Dingen rede. Deshalb werde ich Ihnen jetzt direkt antworten«, sagte er und wandte sich wieder Dirk zu. »Lorimaar ist ein äußerst konservativer und den Traditionen verbundener Kavalare. Er ist derart konservativ, daß er nicht mehr in die Gesellschaft paßt und selbst auf Hoch Kavalaan ein Außenseiter ist. Er kommt aus einem anderen Zeitalter. Erinnern Sie sich an den gestrigen Morgen, als ich Ihnen meine Anstecknadel gab? Als Garse und ich unsere Besorgnis zum Ausdruck brachten, was Ihre Sicherheit nach Tagesanbruch betrifft?« Dirk nickte. Er faßte an seinen Kragen und berührte die sorgfältig angesteckte Nadel. »Ja.«
»Lorimaar Hoch-Braith und andere seiner Art waren der Anlaß für unsere Besorgnis, t’Larien. Die Gründe hierfür sind nicht einfach zu erklären.«
»Vielleicht sollte ich es einmal versuchen«, warf Gwen ein. »Durch die Jahrhunderte hindurch haben sich die hochleibeigenen Kavalaren, die Angehörigen des Festhaltvolkes, immer gegenseitig geachtet… O ja, sie kämpften und trugen so viele Kriege aus, daß über zwanzig Festhalte und Koalitionen völlig zerstört wurden und nur die vier großen Festhalte der heutigen Zeit übrigblieben. Dennoch, trotz Haß und Gewalt respektierten die feindlichen Parteien einander als Menschen, die den Regeln des Hochkrieges und dem kavalarischen Duellkodex unterworfen waren. Aber es muß noch andere gegeben haben, verstehst du — ver-sprengte Leute in den Bergen, Menschen, die unter den Ruinenstädten lebten, Bauern. Das sind nur Vermutungen von uns, aber es liegt auf der Hand, daß solche Leute existiert haben. Diese Überlebenden außerhalb der Bergwerkssiedlungen, die sich zu Festhalten wandelten, wurden von den Hochleibeigenen nicht als Männer und Frauen ihrer Art anerkannt, nicht einmal als Menschen zweiter Klasse. Jaan hat manches aus der geschichtlichen Entwicklung ausgelassen, verstehst du … Oh, nicht so ungeduldig, mein Lieber. Ich weiß, die überlieferte Geschichte reicht weit zurück und wurde sehr knapp zusammengefaßt, aber die hier aus- gesprochenen Einzelheiten sind sehr wichtig. Erinnerst du dich, daß die hranganischen Sklavenrassen den drei Dämonen aus den kavalarischen Mythen entsprechen sollen? Nun, der einzige Haken bei der Sache ist, daß es drei Sklavenrassen gibt oder gab, aber vier verschiedene Dämonen. Als die schlimmsten und gefährlichsten Dämonen galten die Spottmenschen.«
Dirk sah fragend auf. »Spottmenschen? Lorimaar nannte mich einen Spottmenschen. Ich dachte, das sei mehr oder weniger so etwas wie ein Nichtmensch.«
»Nein«, sagte Gwen. »›Nichtmensch‹ ist ein allgemein gebräuchlicher Begriff, das Wort ›Spottmensch‹ taucht dagegen nur auf Hoch Kavalaan auf. Sie waren Gestaltwandler, heißt es in den Legenden, Wermenschen und Lügner. Sie konnten jede gewünschte Gestalt annehmen, am häufigsten aber tauchten sie als Menschen auf und wollten die Festhalte infiltrieren. Einmal eingedrungen, konnten sie, als Menschen verkleidet, unerkannt zuschlagen und töten.