Ein träger blauer Fluß teilte die Stadt und nahm seinen Weg so willkürlich und kurvenreich wie die Straßen entlang seiner Ufer. Gwen und Dirk setzten sich eine Weile unter einer reichverzierten, hölzernen Fußbrücke ans Wasser und beobachteten das Spiegelbild des Fetten Satans, wie es dunkelrot und faul vom Wasser gewiegt wurde. Während sie dort saßen, erzählte sie ihm, wie die Stadt einst gewesen war, damals, in der Zeit der Feste, als noch keiner von ihnen den Fuß auf Worlorn gesetzt hatte.
Die Leute von Kimdiss hatten sie erbaut, sagte Gwen, und sie den Zwölften Traum genannt.
Vielleicht träumte die Stadt jetzt. Wenn das so war, dann war ihr Schlaf endgültig. Ihre Kuppelhallen hallten leer wider, ihre Gärten waren unbändige Dschungel, die bald zu Friedhöfen werden sollten. Wo einst Gelächter die Straßen erfüllt hatte, war jetzt nur noch das raschelnde Wispern toter Blätter zu hören, die der Wind vor sich hertrieb. Wenn Larteyn eine sterbende Stadt war, grübelte Dirk unter der Brücke, dann war der Zwölfte Traum bereits eine Totenstadt.
»Hier wollte Arkin unser Ausgangslager errichten«, sagte Gwen. »Doch wir haben unser Veto eingelegt.
Wollten wir beide zusammenarbeiten, so war es ohne Frage das beste, wenn wir auch in derselben Stadt wohnten, und Arkin hatte den Zwölften Traum dafür auserkoren. Aber er konnte sich nicht durchsetzen, und ich weiß nicht, ob er mir das je verziehen hat. Wenn die Kavalaren Larteyn als Festung präsentieren wollten, dann sollte die Stadt der Kimdissi ein Kunstwerk darstellen.
Früher soll sie noch viel schöner gewesen sein, habe ich gehört. Als das Festival beendet war, räumten sie die prächtigsten Gebäude aus und nahmen die schönsten Skulpturen mit.« »Du hast für Larteyn als Aufenthaltsort gestimmt?« fragte Dirk.
Sie schüttelte den Kopf. Ihr offenes Haar hob sich leicht und berührte Dirk an der Wange. »Nein«, sagte sie.
»Jaan wollte es so, auch Garse. Ich … ich hätte ebenfalls nicht für den Zwölften Traum gestimmt, fürchte ich. Hier hätte ich niemals leben können. Der Geruch des Verfalls ist zu stark. Ich halte es mit Keats, weißt du. Nichts ist so melancholisch wie sterbende Schönheit. Hier gab es ungleich mehr Schönheit als in Larteyn, obwohl Jaan das nicht gerne hören würde. Deshalb ist es auch der traurigere Ort. Abgesehen davon gibt es in Larteyn wenigstens etwas Gesellschaft, selbst wenn es sich nur um Lorimaar und Konsorten handelt. Hier sind nur noch Geister übriggeblieben.« Dirk sah über das Wasser, wo die große rote Sonne, ihrer Kraft beraubt und gefangen, auf den langsam rollenden Wellen gespensterhaft auf und ab tanzte. Und er konnte die Geister fast sehen, von denen sie sprach, Phantome, die sich an beiden Flußufern drängten und Dingen, die für immer verloren waren, traurige Lieder nachsangen. Und ein Geist gaukelte ganz für ihn allein: ein Lastkahnschiffer von Braque trieb sein Gefährt mit einer langen schwarzen Stange den Fluß herunter. Er kam direkt auf Dirk zu, dieser Lastkahnschiffer, näher und immer näher. Und sein schwarzes Boot lag tief im Wasser, bis zum Rand gefüllt mit Leere.
Deshalb erhob sich Dirk und zog Gwen mit sich. Er sagte nur, daß er weitergehen möchte. Und sie flohen vor den Geistern auf die Terrasse zurück, wo der graue Gleiter wartete. Dieser hob sie wieder in die Lüfte hinauf, einem Zwischenspiel von Wind, Himmel und stummen Gedanken entgegen. Gwen flog weiter nach Süden und dann nach Osten. Dirk betrachtete alles, brütete vor sich hin und sagte kein Wort. Von Zeit zu Zeit sah sie zu ihm herüber. Obgleich sie es eigentlich nicht wollte, lächelte sie.
Endlich erreichten sie die See. Die Stadt des Mittags lag am Strand einer zerklüfteten Bucht, in der sich dunkelgrüne Wellen an verrottenden Landungsbrücken brachen. Damals hatte man sie Musquel-am-Meer genannt, sagte Gwen, als sie die Stadt in niedrigen, spiralförmigen Schleifen überflogen. Obwohl sie mit den anderen Städten auf Worlorn entstanden war, haftete ihr etwas Uraltes an. Musquels Straßen waren Schlangen mit gebrochenem Rückgrat, gewundene Kopfsteinpflaster-gäßchen zwischen windschiefen Türmen aus vielfarbigen Backsteinen. Die ganze Stadt bestand aus Backsteinen.
Blaue Backsteine, rote Backsteine, gelbe, grüne, orangefarbene Backsteine, bemalte, gestreifte und gesprenkelte Backsteine, zusammengehalten von Mörtel, der schwarz war wie Obsidian oder rot wie Satan über ihnen, zusammengefügt zu grellen, verrückten Mustern.
Noch auffälliger waren die bemalten Segeltuchmarldsen vor den Verkaufsbuden, die noch immer die planlos angelegten Straßen säumten oder verlassen auf den längst aufgegebenen Holzpiers standen.
Sie landeten auf einer Pier, die nicht so baufällig aussah wie die anderen und lauschten einige Zeit den Brechern. Dann schlenderten sie durch die Stadt. Alles leer — nur Staub. Durch die verlassenen Straßen pfiff der Wind, die Kuppeln und Zwiebeltürme standen leer, und die fette rote Sonne oben am Himmel verwusch die einst so prächtigen Farben. Auch die Backsteine verfielen, überall lag ein vielfarbig schillernder Staub in der Luft, der im Hals kratzte. Musquel war nicht für die Ewigkeit gebaut worden, und nun war es schon so tot wie der Zwölfte Traum. »Ganz schön primitiv«, bemerkte Dirk zwischen dem Zerfall preisgegebenen Häusern. Sie standen auf der Kreuzung zweier Gäßchen vor einem tiefen Brunnen, den ein flaches Mäuerchen umgab. Tief unten plätscherte schwarzes Wasser. »Man kommt sich vor, als stünde man inmitten einer Welt, die Raumfahrt noch nicht kennt, und alle Hinweise scheinen dies zu bestätigen. Auf Braque sieht es ähnlich aus, aber mit kleinen Nuancen. Von der alten Technologie sind zwar nur einzelne Stückchen und Bruchteile geblieben, die von der Religion nicht verboten wurden — aber immerhin, es gibt sie. Musquel hingegen sieht so aus, als gäbe es hier überhaupt nichts davon.«
Sie nickte und strich mit der Handfläche leicht über den Brunnenrand. Ein Schwall von Staub und Steinchen fiel in die Dunkelheit hinab. Dirk bemerkte das stumpfrote Jade-und-Silber an ihrem linken Arm. Er schreckte zurück und fragte sich aufs neue, welche Bedeutung das Armband für Gwen hatte. War es eine Sklavenmarkierung oder ein Zeichen der Liebe? Aber er hatte wenig Lust, sich näher damit zu beschäftigen und verdrängte den Gedanken.
»Die Leute, die Musquel bauten, besaßen nur wenig«, stellte Gwen fest. »Sie kamen von der Vergessenen Kolonie, die von anderen Außenweltlern manchmal auch Letheland genannt wird, von ihren eigenen Bewohnern dagegen immer nur Erde. Auf Hoch Kavalaan nennt man diese Leute das Verlorene Volk. Wer sie sind, wie sie zu ihrer Welt gelangten, woher sie kamen …« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Niemand weiß es. Sie waren auf jeden Fall schon vor den Kavalaren hier und möglicherweise auch vor der Mao Tse-tung, laut unserer Geschichtsschreibung das erste menschliche Sternenschiff, das Templers Schleier durchstoßen hat.
Erzkonservative Kavalaren sind sich sicher, daß sich das Verlorene Volk aus Spottmenschen und hranganischen Dämonen zusammensetzt, obwohl es eine Tatsache ist, daß die Verlorenen mit anderen Menschen Nachkommen zeugen können. Im großen und ganzen ist die Vergessene Kolonie jedoch ein auf sich selbst gestellter Planet, dessen Bewohner vom restlichen Universum kaum Notiz nehmen. Sie sind ein Volk von Fischern und begnügen sich mit dem notwendigen Werkzeug, das sie aus Bronze fertigen. Ein Volk, das unter sich bleiben will.«