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»Dann überrascht mich, daß sie überhaupt hierhergekommen sind«, sagte Dirk, »und sich der Mühe unterzogen haben, eine Stadt zu bauen.«

»Es sollte niemand fehlen«, sagte sie und schubste weitere Steinbrösel über den Brunnenrand, die mit kaum hörbarem Prasseln im Wasser versanken. »Alle vierzehn Kulturen der Außenwelten sollten ihren Beitrag leisten — das war der Grundgedanke. Wolfheim hatte die Vergessene Kolonie einige Jahrhunderte zuvor entdeckt, und so nahmen Wolfheim und Tober das Verlorene Volk in ihre Mitte und schleppten es hierher. Da die Verlorenen keine eigenen Sternenschiffe besaßen und auf ihrem Heimatplaneten als Fischer lebten, machte man sie auch hier zu Fischern. Für den Fischbestand in Worlorns Meeren waren wiederum Wolfheim und die Welt des Schwarzweinozeans zuständig. So konnte das Verlorene Volk ein Leben wie zu Hause führen. Mit handgeknüpften Netzen holten die kleinen schwarzen Männer und Frauen, nackt bis zur Hüfte, in winzigen Booten stehend, die Fische aus dem Meer und brieten ihren Fang über offenem Feuer für die Besucher. Barden und Bänkelsänger brachten Leben in die engen Gäßchen.

Kein Besucher des Festivals auf Worlorn versäumte einen Abstecher nach Musquel, um hier den seltsamen Mythen zu lauschen, Bratfisch zu essen oder ein Boot zu mieten. Aber ich glaube, das Verlorene Volk hing nicht sehr an dieser Stadt. Einen knappen Monat nach Beendigung der Festlichkeiten war der letzte der Verlorenen verschwunden. Sie hielten es nicht einmal für nötig, ihre Markisen einzuholen. Und streift man durch die Gebäude, so kann man heute noch manchmal Fischmesser, Gräten und Kleidungsstücke finden.«

»Hast du selbst auch etwas gefunden?«

»Nein, aber ich habe Geschichten darüber gehört. Kirak Rotstahl Cavis, der Dichter, der in Larteyn lebt, hielt sich hier eine Weile auf, wanderte viel herum und schrieb einige Lieder.«

Dirk blickte sich um, aber es gab nicht viel zu sehen.

Verwaschene Backsteine und leere Straßen, Fenster ohne Scheiben, wie die Höhlen von tausend blinden Augen, bemalte Markisen, die im Wind knatterten. Das war alles.

»Noch eine Geisterstadt«, kommentierte er. »Nein«, widersprach Gwen. »Nein, das glaube ich nicht. Niemals verschenkte das Verlorene Volk eine Seele an Musquel oder Worlorn. Als sie heimkehrten, nahmen sie all ihre Geister mit.« Dirk fröstelte, und plötzlich wirkte die Stadt noch leerer als wenige Augenblicke zuvor. Leerer als leer — ein absurder Gedanke. »Ist Larteyn denn die einzige Stadt, die Leben beherbergt?« fragte er. »Nein«, sagte sie und erhob sich vom Brunnenrand. Zusammen gingen sie das Gäßchen hinunter, zurück in Richtung Meer. »Nein, wenn du willst, zeige ich dir jetzt Leben.

Komm!«

Wieder in der Luft, befanden sie sich auf einem neuerlichen Flug durch die sich langsam verdichtende Dunkelheit. Mit dem Flug nach Musquel und dem dortigen Aufenthalt war der größte Teil des Nachmittags dahingegangen. Der Fette Satan stand tief am westlichen Horizont, und einer seiner vier Begleiter hatte sich schon aus dem Staube gemacht. Wieder herrschte jenes Zwielicht, das auch den frühen Morgen kennzeichnete.

Dirk fühlte sich unruhig. Diesmal übernahm er das Steuer, während Gwen neben ihm saß, dabei ihren Arm leicht auf dem seinen ruhen ließ und kurze Anweisungen gab. Der Tag war schon wieder fast vorbei, und er hatte noch so viel zu sagen, so viel zu fragen, so viel zu entscheiden. Nichts davon hatte er erledigt. Bald jedoch, schwor er sich, während er flog. Bald.

Leise, fast unhörbar, schnurrte der Gleiter unter seiner lenkenden Hand. Der Boden unter ihnen wurde immer dunkler, die Kilometer rasten dahin. Leben, erzählte ihm Gwen, würde es weiter westlich geben. Westlich, dem Sonnenuntergang entgegen.

Die Stadt des Abends war ein geschlossenes, silbernes Bauwerk, mit Füßen, die tief in den sanften Hügeln unter ihnen steckten, und einem Haupt, das zwei Kilometer hoch in die Wolken hineinragte. Es war eine Stadt des Lichts. Ihre Flanken, metallisch und fensterlos, schimmerten in weißglühendem Glanz. Funkelnd und blitzend stieg das Licht vom Boden aus, wo die Stadt tief im Urfelsen verankert war, den spiralförmigen Turm empor. Je mehr sich das grandiose Bauwerk verjüngte und zu der Nadel wurde, die es eigentlich war, desto heller leuchtete das Licht. Immer schneller und höher stieg die Lichtwelle, bis sie schließlich hoch in den Wolken die Spitze der Silberschraube erreichte und dort in einer Emission blendender Glorie erstrahlte. Zu diesem Zeitpunkt waren schon wieder drei weitere Lichtstürme unterwegs zur Spitze. »Challenge!« Gwen nannte den Namen der Stadt, während sie sich näherten.

Sie war eine Herausforderung an die Natur. Die Urbaniten von pi-Emerel, deren Heimatstädte schwarze Stahltürme inmitten wogender Ebenen waren, hatten sie erbaut. Jede Stadt der Emereli war eine Nation für sich, ein Turm, den die meisten Emereli niemals in ihrem Leben verließen. Diejenigen, die es dennoch taten, sagte Gwen, wurden oft zu den rastlosesten Wanderern im Weltraum, ruhelos wie keiner sonst im Universum.

Challenge vereinte die Summe aller Emerelitürme in einem einzigen Manifest. Silberweiß statt schwarz, doppelt so stolz und dreimal so hoch, die Verkörperung von pi-Emerels Philosophie der Arcologien in Metall und Kunststoff, atombetrieben, automatisch, computerisiert, sich selbst versorgend und erhaltend. Die Emereli prahlten, diese Stadt sei unsterblich, ein letzter Beweis dafür, daß die Technologie des Randes — oder die der Emereli, wenn man so will — sich nicht hinter der von Newholme, Avalon und selbst Alt-Erde zu verstecken brauchte.

Im Abstand von jeweils zehn Stockwerken befanden sich dunkle, horizontale Schlitze im Körper der Stadt — Luftlandedecks. Dirk hielt auf eines zu, und als er es erreichte, erhellte sich der schwarze Schlitz, um sie willkommen zu heißen. Die Öffnung war gut zehn Meter hoch, er hatte keine Mühe, den Gleiter in der großen Luftschleuse des hundertsten Stockwerkes zu landen. Als sie ausstiegen, sprach eine tiefe Baßstimme aus dem Nichts zu ihnen. »Willkommen«, tönte es. »Ich bin die Stimme von Challenge. Darf ich Sie einladen?«

Dirk warf einen raschen Blick über die Schulter, aber Gwen lachte ihn nur an. »Das Stadtgehirn«, erklärte sie.

»Ein Supercomputer. Ich sagte doch, daß in dieser Stadt noch Leben ist.«

»Darf ich Sie einladen?« wiederholte die Stimme. Sie kam direkt aus den Wänden.

»Meinetwegen«, sagte Dirk zurückhaltend. »Ich denke, wir sind ein bißchen hungrig. Kannst du uns etwas zu essen besorgen?« Die Stimme antwortete nicht. Statt dessen glitt einige Meter vor ihnen die Wand zurück. Ein gepolstertes Fahrzeug kam lautlos heraus und hielt vor ihnen an. Sie stiegen ein, und das Fahrzeug fuhr durch eine weitere zurückweichende Wand. Sie bewegten sich auf weichen Ballonreifen durch makellos weiße Korridore, vorbei an unzähligen nummerierten Türen.

Die ganze Zeit hindurch drang einschläfernd leise, angenehme Musik an ihre Ohren. Dirk erwähnte, wie sehr das weiße Licht in krassem Gegensatz zu Worlons trübem Abendhimmel stand — und augenblicklich nahmen die Korridore eine weiche pastellblaue Färbung an.

Der dickbereifte Wagen setzte sie vor einem Restaurant ab, wo ein Robotkellner, der mit vertrauter Baßstimme sprach, herbeieilte, um Speise- und Weinkarte anzubieten. Beide Karten führten ein überreichliches Angebot auf und waren keinesfalls auf die Küche von pi-Emerel beschränkt. Im Gegenteil, es gab berühmte Speisen und wertvolle Weine bester Jahrgänge nicht nur von den Außenwelten, sondern von allen denkbaren Planeten des menschlichen Einflußbereiches, Welten eingeschlossen, von denen Dirk noch nie etwas gehört hatte. Unter jedem Gericht stand der Name der Ursprungswelt in kleingedruckten Buchstaben. Lange Zeit überlegten sie, was sie bestellen sollten. Schließlich entschloß sich Dirk für Sanddrachen, in Butter geschmort, der von Jamisons Welt stammte, und Gwen bestellte Blaulaich-in-Käse von Alt-Poseidon.