Kryne Lamiya — so heißt diese Stadt, Kryne Lamiya, die man oft auch Sirenenstadt nannte, so wie Larteyn als Feuerfestung bezeichnet wurde. Nun, sie war bei den Touristen nicht sehr beliebt. Sie sieht sehr groß aus, ist aber bei genauerer Betrachtung viel kleiner. Sie wurde nur für hunderttausend Einwohner gebaut und beherbergte davon nie mehr als den vierten Teil. Wie Dunkeldämmerung selbst, nehme ich an. Wie viele Reisende machen schon einen Abstecher nach Dunkeldämmerung am Rande des Großen Schwarzen Meeres? Und wie viele davon kommen im Winter, wenn der Himmel jener Welt bar jeder Sterne ist und man nur das Licht einiger weit entfernter Galaxien wahrnimmt?
Sehr wenige. Man muß schon ein Sonderling sein. Für Kryne Lamiya trifft dasselbe zu. Die Leute wurden durch das Lied beunruhigt. Es hörte nie auf. Die Dunklinge hielten es nicht für nötig, die Schlafzimmer schalldicht zu machen.« Dirk schwieg. Er starrte auf die schlanken Spiraltürmchen und lauschte ihrem Singsang.
»Willst du landen?« fragte Gwen.
Er nickte, und sie begann, die Maschine hinunterzudrücken. An einem der Türme fanden sie eine offene Landenische. Im Gegensatz zu den Schleusen in Challenge und Zwölfter Traum war diese nicht völlig leer. Zwei andere Luftwagen, ein kurzflügeliger, roter Sportgleiter und eine winzige, schwarzsilberne Träne, standen in der Nähe herum. Beide Fahrzeuge waren schon vor langer Zeit verlassen worden. Staub hatte sich auf den Karosserien und Windschutzscheiben angesammelt, und im Inneren des roten Sportgleiters war die Polsterung in Auflösung begriffen. Neugierig, wie er war, probierte Dirk beide Fahrzeuge aus. Der Sportgleiter gab keinen Ton von sich. Seine Aggregate brachten keine Leistung mehr, sie waren schon lange ausgebrannt. Aber die kleine Träne wurde unter seinem Griff warm, die Armaturen leuchteten auf und zeigten noch geringe Energiereserven an. Der riesige, graue Manta von Hoch Kavalaan war größer und schwerer als die beiden herrenlosen Wracks zusammen.
Sie verließen die Landeschleuse und kamen in einen langen Gang, in dem grauweiße Wandlichtbilder im Einklang mit der allgegenwärtigen Musik waberten und in Kaskaden zerplatzten. Dann betraten sie einen Balkon, den sie von draußen ausgemacht hatten. Im Freien war die Musik geradezu überwältigend. Sie rief sie mit unirdischen Stimmen, berührte sie und spielte anschwellend und lockend in ihrem Haar. Dirk nahm Gwen bei der Hand und starrte blind über Türme, Kuppeln und Kanäle hinweg auf den Wald und die Berge dahinter. Während er so verharrte, schien die Windmusik an ihm zu zerren. Sie sprach zu ihm mit einschmeichelnder Stimme, wollte ihn zum Hin-abspringen animieren, wie es schien — um allem ein Ende zu setzen, dieser dummen, unwürdigen und in höchstem Maße lächerlichen Sinnlosigkeit, die er sein Leben nannte.
Gwen las in seinen Augen. Sie drückte seine Hand, und als er sie ansah, sagte sie: »Während des Festivals verübten mehr als zweihundert Menschen in Kryne Lamiya Selbstmord. Zehnmal mehr als in jeder anderen Stadt. Und das, obwohl diese Stadt die wenigsten Einwohner von allen hatte.«
Dirk nickte. »Ja. Man kann es spüren. Die Musik.«
»Ein Grabgesang«, sagte Gwen. »Die Sirenenstadt selbst ist allerdings nicht tot wie Musquel oder der Zwölfte Traum. Starrköpfig lebt sie weiter, wenn auch nur, um Verzweiflung zu verbreiten und die Leere des Lebens, an das sie sich klammert, zu glorifizieren. Seltsam und widersprüchlich, nicht wahr?«
»Weshalb wurde eine solche Stadt gebaut? Sie ist schön, aber …« »Ich habe eine Theorie«, sagte Gwen.
»Die Dunklinge sind in erster Linie Nihilisten mit schwarzem Humor. Ich glaube, Kryne Lamiya ist ihre verächtliche Antwort auf Hoch Kavalaan, Wolfheim, Tober und die anderen Welten, die das Fest des Randes mit allen Mitteln vorantrieben. Die Dunklinge kamen — und was bauten sie? Eine Stadt, die zum Ausdruck brachte, daß alles wertlos sei. Alles wertlos — das Festival, die Zivilisationen der Menschheit, das Leben selbst. Stell dir das vor! Welch eine Falle für all die hochnäsigen Touristen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und begann unkontrolliert loszulachen, und in Dirk kroch plötzlich die irrationale Angst empor, seine Gwen könnte verrückt geworden sein. »Und hier wolltest du leben?« fragte er. Ihr Lachen verklang so rasch, wie es eingesetzt hatte, der Wind riß es ihr von den Lippen.
Rechts von ihnen produzierte ein Nadelturm einen kurzen, schneidenden Ton, der wie das Jaulen eines verletzten Tieres klang. Ihr eigener Turm antwortete mit dem tieftraurigen Klageton eines Nebelhorns, der nicht mehr enden wollte. Die Musik kam von allen Seiten. Aus der Ferne konnte Dirk die Schläge einer einzelnen Pauke hören — kurze, dumpfe, gleichmäßig erfolgende Schläge.
»Ja«, sagte Gwen. »Hier wollte ich leben.« Das Nebelhorn verklang, jenseits des Kanals begannen vier rohrähnliche Türme, die von durchhängenden Brücken zusammengehalten wurden, ein unerträgliches Pfeifkonzert, das sich in immer höhere Tonlagen hinaufwand, bis es schließlich im nicht mehr vernehmbaren Bereich endete. Die Pauke dröhnte unverändert weiter: bumm, bumm, bumm. Dirk seufzte.
»Ich kann das verstehen«, sagte er sehr müde. »Ich glaube, ich würde diese Stadt auch wählen, obwohl ich mich dann fragen müßte, wie lange ich noch zu leben hätte. Braque war auch so ähnlich, ein bißchen wenigstens, besonders bei Nacht. Vielleicht habe ich deswegen dort gelebt. Ich war sehr müde geworden, Gwen. Unheimlich müde. Ich glaube, ich hatte aufgegeben. In den alten Tagen war ich immer auf der Suche, weißt du. Auf der Suche nach Liebe, nach Geld und Glück, nach den Geheimnissen des Universums — ist ja auch egal. Aber nachdem du mich verlassen hattest … ich weiß nicht, alles ging schief, gefiel mir plötzlich nicht mehr. Und wenn irgend etwas klappte, fand ich es langweilig, es bedeutete mir nichts mehr. Alles war leer.
Ich versuchte tausend Dinge, hatte aber schnell von allem genug, wurde apathisch und zynisch. Möglicherweise kam ich deshalb hierher. Du … ich war in besserer Verfassung, als ich noch mit dir zusammen war. Ich hatte noch nicht so viele Dinge aufgegeben. Ich stellte mir vor, wenn ich dich wiederfinden könnte, wäre es mir vielleicht möglich, auch zu mir zurückzufinden. So ganz ist die Rechnung nicht aufgegangen. Ich weiß nicht, ob sie wenigstens ein bißchen aufgeht.«
»Höre dir Lamiya-Bailis an«, sagte Gwen, »und ihre Musik wird dir sagen, daß nichts aufgeht, daß nichts einen Sinn hat. Ich wollte hier leben, weißt du. Ich stimmte … nun, ursprünglich wollte ich nicht für oder gegen etwas stimmen, aber wir sprachen es bei der ersten Landung durch, und so kam es doch zur Abstimmung.
Die Stadt jagte mir Angst ein. Wahrscheinlich haben wir beide noch viel gemeinsam, Dirk. Auch ich bin müde geworden. Meistens sieht man das nicht. Ich habe meine Arbeit, Arkin ist mein Freund, und Jaan liebt mich. Aber dann komme ich hierher … oder manchmal lasse ich mich nur ein wenig gehen und denke zuviel nach, und dann stelle ich mir Fragen. Sie reichen nicht, die Dinge, die ich habe. So habe ich es nicht gewollt.« Sie wandte sich ihm zu und nahm seine Hand zwischen ihre beiden Hände.
»Ja, ich habe an dich gedacht. Ich habe gedacht, daß es damals besser war, als wir auf Avalon zusammen waren, und ich habe daran gedacht, daß ich dich vielleicht noch immer liebe und nicht Jaan. Ich habe gedacht, daß du und ich vielleicht den Zauber wieder einfangen könnten und allem einen neuen Sinn zu geben in der Lage wären.
Aber es ist nicht so — siehst du das nicht, Dirk? Und deine Vorstöße machen es auch nicht besser. Höre der Stadt zu, höre auf Kryne Lamiya. Dort liegt deine Wahrheit. Du denkst an mich und ich manchmal an dich, weil zwischen uns Scheu ist. Das ist der einzige Grund, warum es besser erscheint. Gestern Glück und morgen Glück, aber niemals heute, Dirk. Es kann gar nicht sein, weil es letzten Endes eben nur eine Illusion ist, und Illusionen sehen aus der Ferne echt aus. Zwischen uns ist es aus, mein Liebling, und das ist das beste, was uns passieren konnte, denn es ist das einzige, was es gut macht.«