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Sie weinte, langsam liefen die Tränen ihre Wangen hinab. Kryne Lamiya weinte mit ihr, die Türme sangen ihr Klagelied. Aber sie machten sich gleichzeitig über sie lustig, als wollten sie sagen: Ich begreife deinen Schmerz, aber auch die Trauer hat nicht mehr Bedeutung als alles andere, der Schmerz ist so leer wie das Vergnügen. Die Spiralentürmchen heulten, dünne Gitter lachten irre, und die tiefe, weit entfernte Pauke machte bumm, bumm, bumm. Wiederum, und diesmal noch stärker, verspürte Dirk das Verlangen, vom Balkon hinabzuspringen, dem bleichen Stein und den dunklen Kanälen entgegen. Ein schwindelerregender Fall — und dann endlich Ruhe. Aber die Stadt schalt ihn singend einen Narren. Ruhe? sang sie. Im Tod gibt es keine Ruhe.

Nur das Nichts. Nichts. Nichts. Die Trommel, die Winde, das Heulen. Zitternd hielt er Gwens Hand. Weit unter sich sah er den Erdboden.

Etwas bewegte sich den Kanal entlang. Etwas kam mit leichter Fahrt auf ihn zu. Ein schwarzer Kahn mit einem einsamen Steuermann. »Nein«, sagte er.

Gwen blinzelte. »Nein?« wiederholte sie.

Und plötzlich sprudelten die Worte hervor, die Worte, die der andere Dirk t’Larien zu seiner Jenny gesagt hätte, und die Worte waren in seinem Mund. Obgleich er nicht sicher war, ob er sie noch glauben konnte, schrie er sie fast hinaus. »Nein!« rief er als wütende Antwort auf die spöttische Musik Kryne Lamiyas. »Verdammt noch mal, Gwen, alle von uns haben ein bißchen von dieser Stadt in uns. Es kommt darauf an, wie wir diesem Teil entgegentreten. Alles wirkt furchteinflößend« er ließ ihre Hand los und gestikulierte mit einer schwungvollen Handbewegung in die Dunkelheit hinaus —, »alles, was sie sagt, und es wird noch viel schlimmer, wenn ein Teil von dir zustimmt, wenn du alles als Wahrheit nimmst, wenn du hierher gehörst. Aber was kann man dagegen tun? Wer schwach ist, ignoriert das einfach. Tue einfach so, als wäre es nicht da, vielleicht verschwindet es dann von selbst. Beschäftige dich tagsüber mit trivialen Aufgaben und wage nicht an die Dunkelheit draußen zu denken. Auf diese Weise wird es die Oberhand über dich gewinnen, Gwen. Am Ende verschluckt es dich und deine Trivialitäten, und du und die anderen Narren liegen grüblerisch da und heißen es auch noch willkommen. So kannst du doch nicht sein, Gwen, so geht es einfach nicht.

Du mußt dich zusammenreißen. Du bist doch Ökologin, nicht wahr? Was ist die Ökologie denn? Leben? Du mußt auf der Seite des Lebens stehen, alles, was du bist, schreit danach. Diese Stadt, diese verdammte totenbleiche Stadt mit ihrer Todeshymne, lehnt alles ab, woran du glaubst und was du bist. Wenn du stark bist, stellst du dich ihr entgegen, nennst sie beim Namen und kämpfst gegen sie an. Trotze ihr!«

Gwen hatte aufgehört zu weinen. »Es hat keinen Zweck«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Du hast unrecht«, erwiderte er. »Was die Stadt und was uns angeht. Es sieht alles ganz anders aus, verstehst du? Du sagst, du möchtest hier leben? Hier leben! In dieser Stadt zu leben, bedeutet schon in sich einen Sieg, einen philosophischen Sieg. Aber lebe hier, weil du weißt, daß das Leben selbst Lamiya-Bailis widerlegt, lebe hier und lache über ihre absurde Musik, lebe nicht hier, um diese verdammte heulende Lüge gutzuheißen.«

Damit nahm er sie wieder bei der Hand. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich schon« log er.

»Glaubst du wirklich, daß … daß wir noch einmal von vorn beginnen könnten? Daß es besser würde als früher?« »Du wirst nicht mehr Jenny sein«, versprach er.

»Nie wieder.« »Ich weiß nicht«, wiederholte sie leise flüsternd. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und hob es an, so daß sie ihm in die Augen sah. Dann küßte er sie ganz leicht, wobei sich ihre Lippen nur oberflächlich berührten. Kryne Lamiya stöhnte. In ihrer Nähe erklang tief und sorgenvoll das Nebelhorn, die abgelegeneren Türme kreischten schrill, und die einsame Pauke hielt ihren langweiligen, bedeutungslosen Rhythmus bei.

Nach dem Kuß standen sie musikumtönt auf dem Balkon und sahen sich lange an. »Gwen«, sagte er schließlich mit weitaus unsicherer und schwächerer Stimme als zuvor, »ich glaube, ich weiß es auch nicht.

Aber vielleicht ist es einen Versuch wert …«

»Vielleicht«, meinte sie, und ihre großen grünen Augen blickten wieder fort, senkten sich dem Boden zu. »Es würde sehr schwierig werden, Dirk. Jaan und Garse sind auch noch da, und eine ganze Menge Probleme. Wir wissen ja nicht, ob es sich überhaupt lohnt. Wir wissen nicht, ob es auch nur den kleinsten Unterschied macht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte er. »In den letzten Jahren bin ich oft zu dem Entschluß gekommen, daß alles egal ist und ein neuer Versuch nicht mehr lohnt. Das machte mich aber auch nicht glücklicher, nur müde, endlos müde. Gwen, wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie wissen.«

Sie nickte. »Mag sein«, war ihr einziger Kommentar.

Der Wind blies kalt und heftig, die dem Wahn der Dunklinge entsprungene Musik wurde abwechselnd lauter und leiser. Sie gingen hinein, die Treppen hinunter, vorbei an den fahl flackernden Lichtwänden auf den einzigen Fels in der Brandung des Irrsinns zu: ihren Gleiter, der darauf wartete, sie nach Larteyn zu tragen.

5

Sie ließen die weißen Türme Kryne Lamiyas hinter sich zurück und hielten auf die verglimmenden Feuer von Larteyn zu. Während des Fluges sprachen sie kaum, berührten sich nicht und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Gwen parkte den Gleiter auf seinem Stammplatz, und Dirk folgte hinab bis zu ihrer Tür. Als er von ihr erwartete, sie würde ihm eine gute Nacht wünschen, flüsterte sie ihm schnell ein »Warte!« zu. Dann huschte sie hinein, und er wartete verstört. Aus ihrem Zimmer drangen Geräusche — Stimmen —, dann war Gwen auch schon zurück. Sie drückte ihm ein dickes Manuskript in die Hand, einen eindrucksvollen Stapel Papier, von Hand in schwarzes Leder gebunden. Jaans Thesen. Er hatte sie schon fast vergessen. »Lies es«, flüsterte sie, den Kopf durch den Türspalt steckend. »Komm morgen herauf, dann werden wir uns noch ein wenig unterhalten.« Sie hauchte ihm einen Kuß auf die Wange und drückte die schwere Tür mit einem leisen Klicken ins Schloß. Einen Augenblick lang stand Dirk verdutzt da und wog das gebundene Manuskript in der Hand, dann ging er zu den Aufzügen hinüber.

Er war noch keine drei Schritte gegangen, als er den ersten Schrei hörte. Irgendwie brachte er es nicht fertig weiterzugehen. Die Geräusche zogen ihn wie magisch an.

Lauschend blieb er vor Gwens Tür stehen. Die Wände waren dick, und nur sehr wenig drang durch. Einzelne Wörter oder Sätze konnte er nicht ausmachen, aber der Tonfall der Stimmen sagte ihm genug. Gwens Stimme dominierte: laut, schrill — manchmal schrie sie sogar —, beinahe hysterisch. Vor seinem inneren Auge sah Dirk Gwen vor den Wasserspeiern im Wohnraum auf und ab gehen, so wie sie es immer tat, wenn sie erregt war.

Beide Kavalaren würden anwesend sein — Dirk war sicher, zwei andere Stimmen zu hören — und sie bedrängen. Die eine Stimme war ruhig und sicher, ohne wütende Zwischentöne, aber unnachgiebig fragend. Sie mußte Jaan Vikary gehören. Sein Stimmfall verriet ihn, sein Sprechrhythmus war selbst durch die Wand hindurch zu erkennen. Die dritte Stimme, Garse Janacek, hörte Dirk zunächst nur selten. Dann aber sprach sie häufiger, wurde immer lauter und wütender. Nach einiger Zeit war von der beherrschten Stimme überhaupt nichts mehr zu hören, während Gwen und Garse einander anbrüllten.