Nach einiger Zeit riß Jaan Vikary wieder das Wort an sich, stieß einen scharfen Befehl hervor. Und Dirk hörte ein Geräusch, ein dumpfes Klatschen. Einen Schlag.
Jemand hatte zugeschlagen, es konnte nichts anderes sein. Schließlich gab Vikary einen weiteren Befehl, dann folgte Stille. Drinnen ging das Licht aus. Dirk stand mucksmäuschenstill, hielt Vikarys Manuskript und fragte sich, was er tun konnte. Wie es schien, blieb ihm nichts anderes übrig, als schlafen zu gehen. Er konnte Gwen höchstens am nächsten Morgen fragen, was geschehen war, wer sie geschlagen hatte und warum. Es muß Janacek gewesen sein, dachte er.
Er entschloß sich, die Aufzüge zu ignorieren und zu Fuß in Ruarks Appartement hinunterzugehen.
Im Bett merkte Dirk schlagartig, daß er unsäglich müde und von den Ereignissen des Tages gehörig mitgenommen war. Soviel auf einmal konnte er beim besten Willen nicht verdauen. Die Kavalarjäger und ihre Spottmenschen, das schmachvolle Leben, das Gwen mit Vikary und Janacek führte,die schwindelerregende Möglichkeit ihrer Rückkehr. Trotzdem konnte er nicht schlafen, und so dachte er lange über alles nach. Ruark schlief schon fest, es gab keinen, mit dem er reden konnte. Schließlich nahm Dirk das schwere Manuskript, das Gwen ihm gegeben hatte und blätterte sich durch die ersten Seiten. Das beste Schlafmittel war immer noch ein Stapel wissenschaftlicher Literatur, dachte er bei sich.
Vier Stunden und ein halbes Dutzend Tassen Kaffee später legte er das Manuskript aus der Hand, gähnte und rieb sich die Augen. Dann löschte er das Licht und starrte in die Dunkelheit. Jaan Vikarys Untersuchung - Mythos und Geschichte: Ursprünge der Festhaltgesellschaft, basierend auf einer Interpretation des Dämonenlied-Zyklus von Jamis-Löwe Taal — war eine schlimmere Anklage seines Volkes, als Ruark je eine zustande gebracht hätte, dachte Dirk. Alles war ausgebreitet worden. Dokumentiert wurde die Arbeit mit Quellenangaben und Bildern aus den Computerbänken von Avalon, dazu mit ausführlichen Zitaten aus der Dichtung Jamis-Löwe Taals und noch ausführlicheren Abhandlungen darüber, was Jamis Taal gemeint hatte.
Alles, was Vikary und Gwen ihm heute morgen erzählt hatten, war im Detail vorhanden. Vikary lieferte Theorie auf Theorie, versuchte, alles zu erklären. Mehr oder weniger erläuterte er auch die Herkunft der Spottmenschen. Er argumentierte, daß während der Zeit des Feuers und der Dämonen einige Überlebende aus der Stadt die Bergwerkssiedlungen erreicht hatten und dort Schutz suchten. Jedoch erwiesen sich die Aufgenommenen als Gefahrenherde. Einige waren Opfer der Strahlenkrankheit geworden, sie starben langsam und schrecklich und übertrugen wahrscheinlich das Gift auf diejenigen, die sie pflegten. Andere, offenbar Gesunde, blieben am Leben und wurden in den Proto-Festhalt integriert, bis sie heirateten und Kinder zeugten. Erst dann zeigten sich die Nachwirkungen der Strahlung. Das alles waren Vikarys Mutmaßungen, die von keiner Zeile aus Jamis Taals Werk gestützt wurden. Trotzdem lieferten sie eine saubere und plausible Rationalisierung des Spottmenschenmythos.
Auch ließ sich Vikary ausführlich über jenes Ereignis aus, das bei den Kavalaren die leidbringende Plage hieß — und was er vorsichtig »den Übergang zum zeitgenössischen Sexualverhalten der Kavalaren« nannte.
Nach seiner Hypothese waren die Hranganer ein Jahrhundert nach ihrem ersten Überfall erneut nach Hoch Kavalaan gekommen. Die von ihnen bombardierten Städte lagen immer noch in Schutt und Asche, neue Gebäude der Menschen gab es nicht. Und doch waren die drei Sklavenrassen, die sie zur Besiedlung des Planeten ausgesetzt hatten, nirgendwo aufzufinden. Sie waren erst dezimiert worden, dann ausgestorben. Zweifellos schloß der kommandierende hranganische »Kopf« daraus, daß noch immer ein paar Kavalaren leben mußten. Um diese endgültig zu vernichten, warfen die Hranganer Seuchenbomben ab. Das war Vikarys Theorie.
In Jamis-Löwe Taals Gedichten tauchten die Hranganer nicht auf, wohl aber wurden Krankheiten erwähnt. Alle überlebenden Festhaltkoalitionen der Kavalaren sind sich darin einig, daß es eine leidbringende Plage gab, eine lange Periode, in der eine schreckliche Seuche die nächste ablöste. Jede Jahreszeit brachte eine neue, noch gefährlichere Krankheit mit sich — den ultimativen Dämon, einen, den die Kavalaren nicht töten konnten.
Von hundert Männern starben neunzig. Neunzig Männer — aber neunundneunzig Frauen.
Wie es schien, sprach eine der Seuchen nur auf Frauen an. Die medizinischen Wissenschaftler auf Avalort, die Vikary aufgesucht hatte, eröffneten ihm dies aufgrund der mageren Hinweise, die sie von ihm erhielten — herausgesucht aus ein paar uralten Gedichten und Liedern. Sie nahmen als wahrscheinlich an, daß die weiblichen Sexualhormone der Krankheit als Katalysator dienten. Jamis-Löwe Taal hatte von jungen Mädchen berichtet, die dank ihrer Unschuld dem grausigen Tod entrannen, während die sündigen eyn-kethi, die es mit den Männern trieben, zu Tausenden zusammenbrachen und unter konvulsivischen Zuckungen starben. Vikary interpretierte dies folgendermaßen: Die vorpubertären Mädchen blieben gesund, während sexuell reife Frauen von der Krankheit befallen wurden. Eine ganze Generation wurde ausgelöscht. Schlimmer noch, die Seuche hielt sich hartnäckig. Kaum war ein Mädchen in die Pubertät gekommen, schon begannen sich die ersten Krankheitssymptome an ihm zu zeigen. Jamis-Löwe Taal zog daraus seine Schlüsse. Im Grunde genommen stimmten seine Beobachtungen, nur maß er ihnen religiöse Bedeutung bei.
Wenige Frauen, die von Natur aus immun waren, überlebten. Sie setzten Töchter in die Welt, von denen wiederum viele immun waren, während die Unglücklichen ohne Abwehrstoffe bereits in der Pubertät starben. Letzten Endes waren Kavalarinnen immun, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Die Leidbringende Plage war zu Ende gegangen. Doch der Schaden konnte kaum wiedergutgemacht werden. Ganze Festhalte waren ausradiert worden, diejenigen, in denen sich noch Leben regte, hatten so viele Menschen verloren, daß die vorher funktionierende Gemeinschaft ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt war. Die auf Monogamie und Gleichheit fußenden Sozialstrukturen und sexuellen Verhaltensweisen der frühen Siedler von Tara wurden unwiderruflich hinweggewischt. Generationen gelangten zur Reife, in denen es zehnmal so viele Männer gab wie Frauen. Kleine Mädchen durchlebten ihre Kindheit mit dem Wissen, daß die Pubertät den Tod bedeuten konnte.
Es war eine grauenhaft harte Zeit, darin waren sich Jaan Vikary und Jamis-Löwe Taal einig.
Die Sünde hob sich erst von Hoch Kavalaan — schrieb Jamis-Löwe —, als man die eyn-kethi wieder dorthin brachte, wo sie hergekommen waren, in die Höhlen, weit weg vom Tageslicht, damit man ihre Schande nicht sehen konnte. Vikary sah das anders. Seiner Meinung nach hatten die Kavalaren nach Kräften gegen die Krankheit gekämpft. Die technologischen Fähigkeiten, luftdichte, sterilisierte Räume zu bauen, besaßen sie schon lange nicht mehr. Aber sie erinnerten sich daran, daß es etwas Ähnliches geben mußte und daß diese Plätze Schutz vor der Krankheit boten. Aus diesem Grunde kamen alle Frauen in gesicherte, gefängnisgleiche Krankenhäuser tief unter der Erde, in die schützendsten Teile der Festhalte, weit weg vom vergifteten Wind, Regen und Wasser. Männer, die einst Seite an Seite mit ihren Frauen durch die Wälder gestreift waren und gejagt hatten, taten sich im Schmerz über die verlorenen Partner mit anderen Männern zusammen. Um ihren sexuellen Spannungen ein Ventil zu verschaffen — und den Bestand immuner Gene zu halten oder zu vergrößern, falls sie davon überhaupt etwas verstanden —, machten die Männer, die die Leidbringende Plage überlebt hatten, ihre Frauen zu sexuellem Gemeineigentum. Um so viele Kinder wie möglich zu zeugen, wurden die Frauen zu Gebärmechanismen degradiert, die ihr Leben frei von Gefahren in ständiger Schwangerschaft verbrachten.