Festhalte, die solche Maßnahmen nicht ergriffen, überlebten die Plage nicht — diejenigen jedoch, denen es gelang, gaben ein verändertes kulturelles Erbe weiter.
Es fanden noch andere Veränderungen statt. Tara war eine religiöse Welt, Sitz der Irischrömisch-Reformiertkatholischen Kirche, und der Drang nach Monogamie war nur schwer zu überwinden. Man traf sie in zwei Formen wieder: Die stark emotional gefärbte Bindung zwischen zwei männlichen Jagdpartnern wurde Basis der tiefgehenden, allumfassenden Beziehung zwischen teyn- und -teyn, während diejenigen Männer, die den weniger engen Bund mit einer Frau vorzogen, betheyns in die Gemeinschaft führten, indem sie Frauen aus anderen Festhalten in ihre Gewalt brachten. Die Führer ermutigten zu solchen Überfällen, wie Jaan Vikary feststellte. Neue Frauen bedeuteten frisches Blut, mehr Kinder, damit größere Bevölkerungszahl und letztlich eine bessere Überlebenschance. Es war undenkbar, daß ein Mann alleinigen Besitzanspruch auf eine eyn-kethi anmeldete. Aber ein Mann, dem es gelang, der Gemeinschaft von außerhalb eine Frau zuzuführen, wurde mit Ehren überhäuft, mit einem Sitz im Rat und — was vielleicht am wichtigsten war — mit der Frau selbst belohnt.
So mußte es sich abgespielt haben, argumentierte Vikary. Aus diesen, für sich selbst sprechenden Wahrheiten hatte sich die moderne Gesellschaft auf Hoch Kavalaan entwickelt. Jamis-Löwe Taal, der selbst erst viele Generationen später über das Antlitz der Welt wanderte, war viel zu sehr Kind seiner eigenen Kultur gewesen, um eine Welt begreifen zu können, in der Frauen einen anderen Status als den ihm vertrauten besaßen. Als ihn die Folklore, die er sammelte, zum Umdenken zwang, fand er diesen Gedanken unerträglich und verrucht. Während er an seinem Dämonenlied-Zyklus arbeitete, schrieb er daher die mündlich überlieferte Literatur um. Er machte aus Kay Eisen-Schmied einen bärenstarken Mann, die Leidbringende Plage zu einer Ballade weiblicher eyn-kethi-Verdorbenheit und erweckte ganz allgemein den Eindruck, die Welt sei schon immer so gewesen, wie er sie vorgefunden hatte. Spätere Dichter bauten auf diesem einmal errichteten Fundament auf. Die Umstände, von denen die Festhaltgesellschaft auf Hoch Kavalaan geprägt wurde, waren schon vor langer Zeit verschwunden. Heute gab es wieder so viele Frauen wie Männer, die Epidemien waren nur noch schaurige Fabeln, und fast alle Gefahren an der Oberfläche des Planeten hatte man überwunden. Trotzdem bestanden die Festhaltkoalitionen weiter. Die Männer fochten ihre Duelle aus, studierten die neue Technologie, arbeiteten auf Farmen und in Fabriken und steuerten die Raumschiffe der Kavalaren, während die eyn-kethi in ausgedehnten unterirdischen Bauten als Sexualpartnerinnen für alle Männer des Festhalts zur Verfügung standen und sich ansonsten mit Aufgaben beschäftigten, die der Rat der Hochleibeigenen als gefahrlos und angemessen erachtete. Natürlich brachten sie auch noch Kinder zur Welt, aber nicht mehr so viele wie früher. Der Bevölkerungszuwachs bei den Kavalaren unterlag strikten Kontrollen. Unter dem Schutz von Jade-und-Silber führten einige Frauen ein etwas freieres Leben, aber nicht viele. Eine betheyn mußte von außerhalb kommen, was bedeutete, daß ein ehrgeiziger Jüngling einen Hochleibeigenen aus einem anderen Festhalt zum Duell fordern und töten mußte — oder er beanspruchte eine eyn-kethi aus einem feindlichen Festhalt und stand dann einem ausgewählten Verteidiger gegenüber. Die zweite Möglichkeit führte selten zum Erfolg, denn der Rat der Hochleibeigenen bestimmte in der Regel den gefürchtetsten Duellkämpfer des Festhalts zum Beschützer der eyn-kethi. In der Tat gab es dafür Spezialisten. Ein Mann, der eine betheyn für sich gewann, erhielt unverzüglich die Hochnamen und einen Platz unter den Herrschenden. Man sagte, er habe seinen kethi das Geschenk doppelten Blutes übergeben — das Blut des Todes mit dem erschlagenen Feind und das Blut des Lebens mit einer neuen Frau. Die Frau genoß den Status von Jade-und-Silber, bis ihr Hochleibeigener getötet wurde. Erschlug ihn jemand aus seinem eigenen Festhalt, wurde sie zur eyn-kethi, kam der Sieger von außerhalb, ging sie in seinen Besitz über. Einen solchen Status als betheyn besaß Gwen Delvano, nachdem sie Jaans Armreif um ihr Handgelenk gelegt hatte.
Lange Zeit lag Dirk wach, sah zur Decke hinauf und dachte über die Dinge nach, die er gelesen hatte. Dabei wurde er immer wütender. Als das erste Morgenlicht durch das Fenster über ihm sickerte, war sein Entschluß gefaßt. Es war ihm beinahe egal, ob Gwen zu ihm zurückkam oder nicht — wenn sie nur Vikary und Janacek und mit ihnen die ganze kranke Gesellschaft von Hoch Kavalaan verließ. Aber so sehr er sich das auch wünschte, er allein konnte den Bruch nicht herbeiführen.
Nun gut, Arkin Ruark hatte recht — er würde ihr helfen.
Er würde bei ihrer Befreiung helfen. Und danach konnte ihr eigenes Verhältnis in Ruhe durchdacht werden.
Mit diesem Vorsatz, den er fest im Gedächtnis verankerte, schlief Dirk schließlich ein.
Es war schon gegen Mittag, als er plötzlich mit einem Schuldgefühl aufwachte. Er setzte sich auf, blinzelte und erinnerte sich, daß Gwen versprochen hatte, am Morgen hochzukommen. Jetzt war es schon Mittag, und er hatte verschlafen. Eilig stand er auf, zog sich an, sah sich kurz nach Ruark um — der Kimdissi war verschwunden und nichts deutete an, wohin und für wie lange — und stieg dann zu Gwens Appartement hinauf. Vikarys Thesen hielt er fest unter den Arm geklemmt. Garse Janacek antwortete auf sein Klopfen.
»Ja?« rief der rotbärtige Kavalare stirnrunzelnd. Er war bis zum Gürtel nackt und trug nur engsitzende, schwarze Hosen und den unverwüstlichen Armreif mit Eisen-und-Glühstein. Mit einem Blick sah Dirk, warum Janacek nicht solche Hemden mit V-Ausschnitt, wie sie Vikary zu bevorzugen schien, trug. Auf seiner linken Brustseite zog sich von der Achselhöhle bis zum Brustbein eine lange, aufgeworfene Narbe hin. Janacek bemerkte seinen Blick.
»Ein Duell, bei dem nicht alles klappte«, bellte er. »Ich war noch zu jung, es wird nicht wieder vorkommen.
Also, was wünschen Sie?«
Dirk errötete. »Ich möchte Gwen sehen«, sagte er. »Sie ist nicht hier«, erwiderte Janacek. Mit unfreundlichem Blick wollte er die Tür wieder schließen.
»Warten Sie.« Dirk fing die Tür mit der Hand auf.
»Was ist denn noch?« »Ich sollte Gwen hier treffen. Wo ist sie?« »In der Wildnis, t’Larien. Ich wäre erfreut, wenn Sie sich daran erinnerten, daß sie Ökologin ist, die von den Hochleibeigenen Eisenjades hierhergeschickt wurde, um wichtige Arbeit zu erledigen. Volle zwei Tage vernachlässigte sie ihre Arbeit und führte Sie landauf und landab. Nun hat sie sich wieder hinter ihre Pflichten geklemmt, wie es sich gehört. Arkin Ruark und sie haben ihre Instrumente genommen und sind in die Wälder gegangen.«
»Davon hat sie in der letzten Nacht nichts erwähnt«, blieb Dirk hart. »Sie muß Sie doch wohl nicht in ihre Pläne einweihen«, sagte Janacek. »Und auch nicht Ihre Erlaubnis einholen. Zwischen Ihnen existiert kein Bund!«
Dirk erinnerte sich an den Streit, den er die Nacht zuvor belauscht hatte und wurde plötzlich argwöhnisch.
»Kann ich hereinkommen?« fragte er. »Ich möchte Jaan das hier zurückgeben und mit ihm darüber diskutieren.« fügte er hinzu und zeigte Garse die in Leder gebundene Abhandlung. In Wirklichkeit wollte er nach Gwen Ausschau halten und herausfinden, ob man sie vor ihm versteckte. Dies zuzugeben, wäre aber nicht sehr höflich gewesen. Janacek triefte förmlich vor Feindseligkeit, und ein Versuch, sich an ihm vorbeizudrängeln, war bestimmt sehr unklug. »Im Augenblick ist Jaan nicht zu Hause.
Außer mir ist niemand hier, und ich gehe auch gleich.«
Er nahm das Manuskript aus Dirks Händen. »Das behalte ich jedoch hier. Gwen hätte es Ihnen nicht geben sollen.«
»Moment!« sagte Dirk, einer Eingebung folgend. »Der Text war sehr interessant. Kann ich hereinkommen und mit Ihnen darüber reden? Nur ein paar Minuten? Ich will Sie nicht aufhalten.« Janaceks Miene wandelte sich. Er lächelte, gab den Weg frei und bat Dirk in das Appartement.