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6

Zuerst war das Warten die reine Hölle.

Nachdem sie herausgefunden hatten, daß die Eisenjades nicht anwesend waren, nahmen sie ihn mit hinauf zu dem Gleiterlandeplatz auf dem Turm und zwangen ihn, in einer Ecke des luftigen Daches Platz zu nehmen. In Dirk gewann langsam Panik die Oberhand, sein Magen hatte sich zu einem schmerzenden Klumpen zusammengezogen. »Bretan«, begann er mit leicht hysterischem Tonfall, aber der Kavalare drehte sich nur um und schlug ihm mit der flachen Hand kräftig über den Mund.

»Für dich bin ich nicht ›Bretan‹«, sagte er. »Wenn du mich unbedingt ansprechen mußt, Spottmensch, dann nenne mich Bretan Braith.« Danach schwieg Dirk. Das zerbrochene Feuerrad bewegte sich unendlich langsam über Worlorns Himmel, und während er beobachtete, wie es dahinkroch, kam es Dirk so vor, als habe er einen entscheidenden Punkt erreicht. Alles, was mit ihm geschehen war, erschien ihm so unwirklich — die Braiths und die Vorkommnisse des Nachmittags noch mehr als alles andere. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er plötzlich aufspringen und über den Dachrand auf die Straße hinunterhechten würde. Er würde fallen und fallen, dachte er, wie man in einem Traum fällt, aber der Aufprall auf die dunklen Glühsteinblöcke dort unten würde nicht weh tun, nur das plötzliche Erwachen würde ihn schrecken. Schweißgetränkt und über die Absurditäten dieses Alptraumes lachend, würde er sich in seinem Bett auf Braque wiederfinden. Mit diesem und anderen Gedanken beschäftigte er sich scheinbar stundenlang, aber als er schließlich aufsah, war der Fette Satan kaum tiefer gesunken. Dann begann er zu zittern.

Die Kälte, sagte er sich, der kalte Wind auf Worlorn.

Aber er wußte, daß es nicht die Kälte war, und je mehr er dagegen ankämpfte, desto mehr bibberte er, bis die Kavalaren ihm verständnislose Blicke zuwarfen. Und das Warten hatte noch immer kein Ende. Endlich ließ das Zittern nach und verschwand, genau wie die Selbstmordgedanken und die Panik zuvor, und eine seltsame Ruhe überkam ihn. Er begann wieder nachzudenken, aber ihm wollte nur dummes Zeug durch den Kopf gehen. Nutzlose Spekulationen — als ob er bald eine Wette abzuschließen hätte, welcher von den beiden Gleitern zuerst eintraf, der graue Manta oder die Militärmaschine, wie Jaan oder Garse wohl in einem Duell mit dem einäugigen Bretan aussehen würden, was mit den Puddingkindern in der entfernten Schwarzweinerstadt geschehen war. Solche Angelegenheiten schienen von schrecklicher Wichtigkeit zu sein.

Dann begann er seine Fänger zu beobachten. Das war das interessanteste Spiel von allen und diente genausogut wie jedes andere dazu, die Zeit zu vertreiben. Als er sie musterte, fiel ihm allerhand auf. Seit sie ihn zum Dach eskortiert hatten, war zwischen den beiden Kavalaren kaum ein Wort gefallen. Chell, der Lange, saß auf der niedrigen Mauer, die den Landeplatz einfaßte, kaum einen Meter von Dirk entfernt. Als Dirk sich ihn genauer ansah, bemerkte er, daß er schon einen recht alten Mann vor sich hatte. Die Ähnlichkeit mit Lorimaar Hoch-Braith war sehr trügerisch. Obgleich sich Chell wie ein jüngerer Mann kleidete und verhielt, war er mindestens zwanzig Jahre älter als Lorimaar, schätzte Dirk. Wie er so dasaß, lasteten die Jahre schwer auf ihm. Ein beträchtlicher Bauch wölbte sich über seinen mattglänzenden Netz-Stahlgürtel, und die Falten in seinem wettergegerbten Gesicht waren tief. Chell hatte die Hände auf seine Knie gestützt, und Dirk sah blaue Venen und graurosa Flecken auf ihrem Rücken. Die sinnlos lange Warterei auf die Rückkehr derer von Eisenjade ging auch an ihm nicht spurlos vorbei, er zeigte mehr als nur Langeweile. Seine Wangen schienen mehr und mehr einzufallen, und seine breiten Schultern hatte er achtlos sinken lassen.

Insgesamt bot er ein trauriges Bild. Einmal bewegte er sich seufzend. Er nahm die Hände von den Knien, hakte die Finger ineinander und streckte sich. Dabei sah Dirk seine Armspangen. Am rechten Arm war Eisen-und-Glühstein, ein Gegenstück zu jener vom einäugigen Bretan so stolz zur Schau gestellten Manschette. Links befand sich das Silber. Die Jade fehlte allerdings. Früher war sie vorhanden gewesen, aber die Steine waren aus ihren Fassungen gebrochen worden, und jetzt war der Silberarmreif durchlöchert.

Während der müde alte Chell — plötzlich fiel es Dirk schwer, in ihm die bedrohliche, kriegerische Gestalt zu sehen, die er noch vor wenigen Minuten gewesen war — darauf wartete, daß etwas passierte, schritt Bretan (oder Bretan Braith, wie er genannt werden wollte) unruhig auf und ab. Er steckte voll ungezügelter Energie und schien in dieser Hinsicht schlimmer zu sein als jeder, den Dirk jemals gekannt hatte, schlimmer sogar noch als seine Jenny, die damals ein recht unruhiger Geist gewesen war.

Die Hände tief in den Taschen seiner kurzen weißen Jacke vergraben, ging er ruhelos auf dem Dach umher.

Alle paar Augenblicke starrte er ungeduldig nach oben, als wollte er sich bei dem Zwielichthimmel beschweren, daß er ihm Jaan Vikary vorenthielt. Ein seltsames Paar, dachte Dirk. Bretan Braith war so jung, wie Chell alt war — sicherlich nicht älter als Garse Janacek und wahrscheinlich jünger als Gwen, Jaan oder er selbst. Wie kam es, daß er teyn eines um so viele Jahre älteren Kavalaren war? Er war auch kein ›hoch‹, hatte demnach Braith keine betheyn geschenkt. Sein linker Arm, der mit feinem roten Haar bedeckt war, das dann und wann aufleuchtete, wenn er günstig zur Sonne stand, trug keinen Reif aus Jade-und-Silber. Sein Gesicht, sein merkwürdiges Halbgesicht, war über alle Maßen häßlich, aber als der Tag langsam schwand und die Abenddämmerung eintrat, hatte er sich daran gewöhnt.

Immer, wenn Bretan Braith in die eine Richtung schritt, sah er völlig normal aus: ein gertenschlanker Jüngling voll nervöser Energie, die er eng im Zaum hielt, so eng, daß Bretan innerlich zu brutzeln schien. Von dieser Seite wirkte sein Gesicht ungezeichnet und fast heiter, kurze schwarze Locken ringelten sich um sein Ohr, und einige Strähnen fielen ihm auf die Schulter, aber es war nicht die entfernteste Spur eines Bartes zu entdecken. Selbst die Braue über seinem großen grünen Auge war nur eine schwache Linie. Er sah beinahe unschuldig aus.

Dann schritt er bis zum Rand des Daches, wandte sich um und kam den gleichen Weg zurück. Jetzt war alles ganz anders. Die linke Gesichtshälfte sah unmenschlich aus, eine Landschaft aus zerstörten Ebenen und verbogenen Winkeln, wie sie ein Gesicht einfach nicht haben durfte. Das Fleisch war ein halbes Dutzend mal genäht, an anderen Stellen glänzte es dicklich wie Emaille. Auf dieser Seite hatte Bretan überhaupt keine Haare, auch kein Ohr — nur ein Loch —, und die linke Seite seiner Nase war ein kleines Dreieck aus fleischfarbenem Kunststoff. Sein Mund war ein lippenloser Schlitz, der sich dauernd bewegte — was am schlimmsten von allem war. Ein Pulsieren, ein groteskes Zucken ging von seinem linken Mundwinkel aus und pflanzte sich über das hügelige Narbengewebe bis zu seiner kahlen Schädeldecke fort.

Im Tageslicht war das Glühsteinauge des Braith so dunkel wie ein Stück Obsidian. Nun wurde es jedoch langsam Nacht, das Höllenauge ging unter, und in der leeren Augenhöhle begann es zu funkeln. Bei völliger Dunkelheit würde Bretan das Höllenauge sein. Der Glühstein würde sein stetiges, von keinem Blinzeln unterbrochenes Rot abstrahlen, und das ihn umgebende Halbgesicht würde zur schwarzen Travestie eines, Totenschädels werden, das perfekte Heim für ein Auge wie dieses. Das alles wirkte sehr furchterregend, bis man sich bewußt machte — und Dirk hatte diesen Schritt vollzogen —, daß die unheimliche Wirkung beabsichtigt war. Bretan Braith brauchte beileibe keinen Glühstein als Auge, er hatte ihn aus persönlichen Gründen gewählt, und diese Gründe waren nicht schwer zu verstehen.

Dirks Erinnerung raste zum frühen Nachmittag und dem Gespräch am Wolfskopfgleiter zurück. Ganz klar, Bretan war schnell und gewitzt, während Chell schon seit einigen Jahren leicht senil sein mochte. Es hatte schrecklich lange gedauert, bis sein Geist etwas erfaßte, ja, sein junger teyn mußte ihn sogar wie einen Blinden führen. Plötzlich kamen ihm die beiden Braiths weit weniger gefährlich vor, und Dirk konnte sich nur erstaunt fragen, warum sie ihm solche Angst eingejagt hatten. Sie waren fast amüsant. Ganz gleich, was Jaan Vikary sagen würde, wenn er von der Stadt im Sternenlosen Teich zurückkehrte — es würde nichts geschehen. Von diesen beiden ging keine echte Gefahr aus. Wie um Dirks Gedankengang noch zu unterstreichen, begann Chell vor sich hinzumurmeln, Selbstgespräche zu führen, ohne daß er selbst etwas davon bemerkte. Dirk warf ihm einen raschen Seitenblick zu und versuchte zu verstehen, was der alte Mann sagte. Chell starrte ins Leere, während er sprach, schüttelte er sich. Seine Worte ergaben keinen Sinn, und Dirk benötigte mehrere Minuten, bis ihm dämmerte, daß er Altkavalar sprach. Diese Sprache hatte sich während der Jahrhunderte des Interregnums auf Hoch Kavalaan entwickelt, als die überlebenden Kavalaren keinen Kontakt mehr zu anderen Menschenwelten unterhielten. In neueren Zeiten war sie rasch wieder in Standardterranisch aufgegangen und bereicherte die Ursprungssprache um viele Begriffe, für die es kein Äquivalent gab. Heute sprach kaum noch jemand Altkavalar, hatte Garse Janacek gesagt. Und dort saß dieser ältliche Mann aus der konservativsten Festhaltkoalition neben ihm und brabbelte Dinge, die er in seiner Jugend aufgeschnappt haben mußte.