Mit Bretan verhielt es sich nicht viel anders. Er war Dirk gegenüber handgreiflich geworden, nur weil dieser die falsche Anrede gebraucht hatte, eine Form, die den kethi vorbehalten war. Ebenfalls ein aussterbender Brauch, wie Garse behauptet hatte. Selbst die Hochleibeigenen hielten sich nur noch lasch an ihn. Nicht so Bretan Braith. Jung und noch lange kein ›Hoch‹, klammerte er sich an Traditionen, die von Männern, die oft Generationen älter waren als er, abgelehnt wurden, weil sie ihnen als sinnentleerte Formeln erschienen.
Dirk spürte beinahe Mitleid mit ihnen. Sie waren Versager, sagte er sich, noch viel mehr ausgestoßen und allein als er selbst. In gewissem Sinn waren sie sogar ohne Heimat, weil Hoch Kavalaan über sie hinaus-gewachsen war und nicht länger ihre Welt sein konnte.
Kein Wunder, daß sie nach Worlorn kamen, sie gehörten hierher. Sie starben — und mit ihnen all ihre Ansichten.
Besonders Bretan war eine bemitleidenswerte Figur, Bretan, der so verzweifelt versuchte, hart zu erscheinen.
Er war jung, vielleicht der letzte Aufrechte seiner Art, und möglicherweise erlebte er die Zeit noch, wo niemand mehr so dachte wie er. War er deshalb Chells teyn? Weil seine Gleichgestellten ihn und die Werte dieses alten Mannes ablehnten? Möglich war es, dachte Dirk, und das war hart und traurig. Eine gelbe Sonne schien noch schwach im Westen. Von der Nabe konnte man nur noch einen roten Dunstschleier am Horizont sehen. Dirk war nachdenklich und gefaßt, aber ohne jede Angst, als sie die Gleiter hörten.
Bretan Braith erstarrte und sah auf, seine Hände fuhren aus den Taschen. Eine griff ganz automatisch zum Halfter seiner Laserpistole. Blinzelnd kam Chell auf die Beine und er schien plötzlich um ein Jahrzehnt verjüngt.
Auch Dirk erhob sich.
Zwei Gleiter kamen in fast militärischer Präzision Seite an Seite herangeflogen — der graue und der olivgrüne.
»Komm her«, krächzte Bretan, und Dirk ging zu ihm hinüber. Chell schloß sich ihnen an, so daß sie zu dritt nebeneinander standen, Dirk wie ein Gefangener in der Mitte. Der Wind zerrte an seiner Kleidung. Überall um ihn herum begannen die Glühsteine Larteyns ihr blutrotes Licht abzustrahlen, und Bretans Auge — so dicht neben ihm — leuchtete wild in seinem vernarbten Nest. Das Zucken hatte aus irgendeinem Grund aufgehört, sein Gesicht war völlig unbewegt.
Jaan Vikary schaltete den Antrieb des grauen Manta ab und ließ ihn langsam auf dem Antischwerkraftfeld herabsinken. Dann sprang er heraus und kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Die klobige, häßliche Militärmaschine, die mit einem Dach versehen und so schwer bewaffnet war, daß man den Piloten nicht ausmachen konnte, landete fast gleichzeitig. Eine schwere Metalltür öffnete sich an ihrer Seite, und Garse Janacek kam mit eingezogenem Kopf zum Vorschein.
Als er sah, was los war, schlug er die Tür krachend zu, kam herüber und stellte sich rechts neben Vikary auf.
Vikary lächelte vage und begrüßte Dirk mit einem kurzen Nicken. Dann sah er Chell an. »Chell Nim Kaltwind fre-Braith Daveson«, sagte er förmlich. »Ehre Eurem Festhalt, Ehre Eurem teyn.« »Und Eurem ebenfalls«, sagte der alte Braith. »Mein neuer teyn wacht an meiner Seite. Ihr kennt ihn noch nicht.« Er zeigte auf Bretan. Jaan wandte sich um und musterte den narbengesichtigen Jüngling kurz. »Ich bin Jaan Vikary von der Eisenjadeversammlung«, sagte er. Bretan gab nur einen Laut von sich, jenen charakteristischen Laut. Peinliches Schweigen war die Folge.
»Richtiger gesagt, heißt mein teyn Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary«, sagte Janacek. »Und ich bin Garse Eisenjade Janacek.« Jetzt antwortete Bretan. »Ehre Eurem Festhalt, Ehre Eurem teyn. Ich bin Bretan Braith Lantry.«
»Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Janacek ohne die Spur eines Lächelns. »Wir haben von Euch gehört.«
Jaan Vikary warf ihm einen warnenden Blick zu. Etwas schien mit Jaans Gesicht nicht zu stimmen. Zuerst dachte Dirk an einen Lichtreflex — es wurde nun schnell dunkel —, aber dann sah er, daß Jaans Kiefer an einer Seite geschwollen war, was seinem Profil einen anderen Ausdruck verlieh.
»Wir kommen in Hoher Beschwerde zu Euch«, sagte Bretan Braith Lantry.
Vikary sah Chell an. »Ist es so?« »Es ist so, Jaantony Hoch-Eisenjade.«
»Ich bedaure, wenn es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen ist«, antwortete Vikary. »Was liegt vor?«
»Wir müssen Euch eine Frage stellen«, sagte Bretan. Er legte die Hand auf Dirks Schulter. »Dieser hier, Jaantony Hoch-Eisenjade … Sagt uns, ist er korariel von Eisenjade oder nicht?«
Jetzt grinste Garse Janacek unverhohlen, und seine durchdringenden blauen Augen trafen in ihrer eisigen Tiefe lachend auf die von Dirk, als wollten sie sagen:
»Aha, was hat er jetzt wieder angestellt?« Jaan Vikary sah nur finster drein. »Warum?«
»Hängt Eure Wahrheit von unseren Gründen ab, Hochleibeigener?« fragte Bretan barsch. Seine vernarbte Wange zuckte ungestüm. Vikary sah Dirk an. Er war nicht gerade erfreut, das sah man ihm an. »Ihr habt keinen Grund, Eure Antwort hinauszuschieben oder sie uns vorzuenthalten, Jaantony Hoch-Eisenjade«, sagte Chell Daveson. »Die Wahrheit heißt ja, oder die Wahrheit heißt nein, mehr kann darin nicht liegen.« Die Stimme des alten Mannes klang beherrscht. Er hatte keine Nervosität zu verbergen, und sein Kodex diktierte ihm jedes Wort. »Früher mögt Ihr recht gehabt haben, Chell fre-Braith«, begann Vikary. »In den alten Tagen der Festhalte war die Wahrheit eine einfache Angelegenheit, aber jetzt sind die Zeiten anders und voller neuer Dinge. Wir sind jetzt Menschen von vielen Welten, nicht nur von einer, und deshalb sind unsere Wahrheiten viel komplexer.«
»Nein«, sagte Chell. »Dieser Spottmensch ist korariel oder nicht korariel. Daran ist nichts komplex.«
»Mein teyn Chell spricht wahr«, fügte Bretan hinzu.
»Die Frage, die ich Euch gestellt habe, Hochleibeigener, ist ganz einfach. Ich verlange Eure Antwort.«
Vikary ließ sich nicht zur Eile antreiben. »Dirk t’Larien ist ein Mann der fernen Welt Avalon, einer Menschenwelt, auf der ich früher studierte und die weit hinter Tempters Schleier liegt. Ich nannte ihn korariel, um ihm meinen Schutz und den Schutz Eisenjades gegen diejenigen zu gewähren, die ihm Böses wollen. Aber ich beschütze ihn als Freund, so wie ich einen Bruder in Eisenjade schützen würde, wie ein teyn seinen teyn beschützt. Er ist nicht mein Eigentum. Ich erhebe keinen Anspruch auf ihn. Versteht ihr?«