»Es ist schon spät«, sagte sie. »Am besten begeben wir uns gleich zur Ruhe.« Damit war Dirk entlassen. »Und Jaan?« fragte er. »Du wirst ihn morgen treffen«, erwiderte sie. »Zuerst muß ich aber die Chance haben, mit ihm zu reden.«
»Warum?« fragte er. Aber Gwen hatte sich bereits abgewandt und war auf die Treppe zugegangen. Dann kam der Aufzug. Ruark legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn hinein. Sie fuhren abwärts, Schlaf und Träumen entgegen.
2
Er fand in dieser Nacht nur wenig Ruhe. Aus jedem kurzen Schlummer jagten ihn Alpträume in die Realität zurück. Es waren stroboskopartige, von Gift durchsetzte Visionen, an die er sich nur noch schwach erinnern konnte, wenn er aufwachte. Schließlich gab er auf und begann damit, seine Habseligkeiten zu durchstöbern, bis er das Juwel in seiner Hülle aus Samt und Silber fand. In der Dunkelheit sitzend, berauschte er sich an dessen leeren Versprechungen.
Stunden vergingen. Dann erhob sich Dirk, kleidete sich an, steckte das Juwel in die Tasche und ging allein nach draußen, um den Auf gang des Rades mitzuerleben.
Ruark schlief noch fest, aber er hatte den Türcode auf Dirk eingestellt, so daß es für diesen kein Problem war, den Raum zu verlassen. Mit dem Aufzug fuhr er zum Dach hinauf und verbrachte die letzten Stunden der Nacht in sitzender Stellung auf dem kalten Metallflügel des grauen Luftwagens.
Die Morgendämmerung erschien ihm eigenartig, wirkte trübe und gefährlich. Ein trister Tag wurde aus ihr geboren. Zuerst überzog ein diesiger Schein den Horizont, ein schwarzrotes Geschmier, das für die Glühsteine der Stadt nur ein schwaches Echo abgab.
Dann ging die erste Sonne auf: eine winzige gelbe Kugel, in welche Dirk mit ungeschütztem Auge blicken konnte.
Minuten später erschien an einer anderen Stelle des Horizontes eine zweite, größere und hellere Sonne.
Obwohl beide deutlich größer waren als Sterne, spendeten sie immer noch weniger Licht als etwa Braques feister Mond.
Etwas später begann die Nabe über dem Freigelände zu erscheinen. Anfangs war es nur ein Streifen matten Rots, der sich im Zwielicht der Morgendämmerung verlor, aber dann wurde er heller und heller, bis Dirk schließlich erkannte, daß es sich um keine Reflexion, sondern um die Korona einer mächtigen, roten Sonne handelte. In ihrem Schein nahm die Welt eine karmesinrote Färbung an.
Er sah auf die Straßen hinunter. Die Steine von Larteyn waren jetzt verblaßt, nur in Schattenzonen konnte man noch ein schwaches Glühen bemerken. Wie eine mausgraue Decke, durchwirkt von verwaschenem Rot, hatte sich Düsternis über die Stadt gelegt. Im kalten, schwachen Licht waren die Flammen der Nacht erloschen, und über den stillen Straßen lag der bittere Hauch von Tod und Verlassenheit. Worlorns Tag. Noch herrschte Zwielicht.
»Letztes Jahr war es noch heller«, ertönte eine Stimme hinter ihm. »Nun wird es jeden Tag dunkler und kälter.
Von den sechs Sternen der Höllenkrone verstecken sich im Augenblick zwei hinter dem Fetten Satan und sind daher für uns ohne Nutzen. Die anderen werden kleiner und entfernen sich allmählich. Satan selbst schaut noch auf Worlorn herab, aber sein Licht ist tiefrot und wird immer schwächer. So lebt Worlorn in einem langsam abnehmenden Sonnenuntergang. Nur wenige Jahre noch, und die sieben Sonnen werden zu sieben Sternen geschrumpft sein. Dann wird das Eis zurückkommen.« Der Sprecher stand bewegungslos da und betrachtete den Sonnenaufgang. Seine Stiefel zeigten leicht auseinander, die Hände hatte er auf die Hüften gelegt.
Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann, schlank und sehr muskulös, der den Oberkörper sogar an einem solch frostigen Morgen nicht bedeckt hatte. Seine rotbronzene Haut bekam durch das Licht des Fetten Satan einen noch röteren Ton. Er hatte hohe, eckige Backenknochen, ein wuchtiges, breites Kinn und nach hinten gekämmtes, schulterlanges Haar, ebenso schwarz wie das von Gwen. An den Unterarmen -es waren dunkle, mit feinem schwarzem Haar bedeckte Arme — trug er zwei schwere Armbänder. Jade und Silber am linken, schwarzes Eisen mit rotem Glühstein am rechten Arm.
Auf der Mantaschwinge sitzend, verzog Dirk keine Miene. Der Mann sah auf ihn herab. »Sie sind Dirk t’Larien, und einst waren Sie Gwens Liebhaber.« »Und Sie sind Jaan.«
»Jaan Vikary, von der Eisenjadeversammlung«, sagte der andere. Er trat ein paar Schritte vor und hob die Hände, wobei er die leeren Handflächen nach außen richtete.
Von irgendwoher kannte Dirk diese Geste. Er stand auf und preßte seine eigenen Handflächen gegen die des Kavalaren. Dabei fiel ihm noch etwas auf. Jaan trug einen Gürtel aus schwarzem, geöltem Metall, und eine Laserwaffe hing an seiner Seite.
Vikary war seinem Blick gefolgt und lächelte. »Alle Kavalaren sind bewaffnet. So ist es bei uns Sitte — wir schätzen das. Ich hoffe, Sie sind nicht schockiert oder so voreingenommen wie Gwens Freund, der Kimdissi.
Falls doch, so ist das Ihr Fehler und nicht der unsrige.
Larteyn ist ein Teil von Hoch Kavalaan. Sie können nicht erwarten, daß sich unsere Kultur der Ihrigen anpaßt.«
Dirk setzte sich wieder. »Nein. Nach allem, was ich gestern abend gehört habe, hätte ich damit rechnen müssen. Ich finde es wirklich sehr merkwürdig. Findet irgendwo ein Krieg statt?«
Vikary lächelte dünn — ein gleichmäßiges, wohlüberlegtes Entblößen der Zähne. »Irgendwo findet immer ein Krieg statt, t’Larien. Das Leben selbst ist ein Krieg.« Er hielt inne. »Sie heißen t’Larien. Ein ungewöhnlicher Name. Niemals habe ich einen ähnlich klingenden Namen gehört, auch mein teyn Garse nicht.
Wo liegt Ihre Heimatwelt?« »Baidur, ziemlich weit von hier. Auf der anderen Seite von Alt-Erde. Aber ich kann mich kaum daran erinnern. Als ich noch sehr jung war, zogen meine Eltern nach Avalen.«
Vikary nickte. »Sie sind viel gereist, wie mir Gwen sagte. Welche Welten haben Sie gesehen?«
Dirk zuckte die Achseln. »Prometheus, Rhiannon, Thisrock, Jamisons Welt und viele andere. Avalon nicht zu vergessen. Insgesamt ein Dutzend meist primitiverer Welten als Avalon, auf denen mein Wissen gefragt ist.
Wenn man am Institut gewesen ist, findet man gewöhnlich leicht Arbeit. Man braucht nicht einmal besonders geschickt oder talentiert zu sein. Ich komme gut zurecht und reise gern herum.« »Aber bisher sind Sie nie über Tempters Schleier hinausgekommen.
Immer nur im Wirrwarr, nie auf den Außenwelten. Sie werden sehen, t’Larien, hier geht es anders zu.«
Dirk runzelte die Stirn. »Welches Wort haben Sie eben gebraucht? Wirrwarr?«
»Der Wirrwarr«, wiederholte Vikary. »Ach ja, das ist Slang der Wolfmenschen. Die Wirrwarrwelten oder chaotischen Welten, wenn Sie so wollen. Eine Redensart, die ich mir durch Umgang mit mehreren Wolfmenschen, die während meiner Studienzeit auf Avalon zu meinen Freunden zählten, angeeignet habe. Der Begriff bezieht sich auf die Sternensphäre zwischen den Außenwelten und den Kolonien der ersten und zweiten Generation, nahe der Alt-Erde. In diesem Raumsektor begannen die Hranganer mit ihren Eroberungszügen, unterdrückten ihre Sklavenwelten und kämpften gegen die Erdimperialen. Die meisten Planeten, die Sie nannten, waren schon damals besiedelt. Durch den Krieg wurden sie schwer betroffen und durch den Zusammenbruch ins Chaos gestürzt. Avalon selbst ist eine Kolonie der zweiten Generation. Einst war Avalon der Hauptplanet des ganzen Sektors. Was meinen Sie, reicht das als Charakterisierung einer Welt in der heutigen, wirren pi-Zeit?«