Grauflammende Wände. So endlos erhabener als die Staubpartikel. Diese Tänzer folgten einem Schema, und ihre Musik war das Lied der Sirenenstadt.
Trostlosigkeit. Leere. Verfall. Eine einzelne Pauke, in langsamem Rhythmus geschlagen. Allein. Allein. Allein.
Alles war sinnlos. »Dirk!«
Es war Gwens Stimme. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um, blickte auf die Stelle hinab, wo sie in der Dunkelheit liegen mußte. Es war Nacht. Nacht.
Irgendwie hatte sich der Tag davongestohlen. Gwen sah zu ihm auf — sie hatte nicht geschlafen. »Es tut mir leid«, sagte sie. Sie sagte ihm etwas. Aber er wußte es schon.
Wußte es von der Stille, wußte es von der Pauke. Von Kryne Lamiya. Er lächelte. »Du hast es nicht vergessen, nicht wahr? Es war keine Frage des Vergessens. Du hattest deine Gründe, warum du dieses Ding niemals ablegtest.« Er deutete auf ihren Arm.
»Ja«, sagte sie. Sie setzte sich im Bett auf, und die Decke rutschte bis zu den Hüften hinab. Jaan hatte ihren Anzug vorn geöffnet, so daß er jetzt lose herabhing und die sanften Kurven ihrer Brüste entblößte. Im flak-kernden Licht wirkte ihr Fleisch blaß und grau. Dirk fühlte keine Erregung bei diesem Anblick. Ihre Hand bewegte sich auf das Jade-und-Silber zu. Sie berührte es, streichelte es, seufzte. »Ich hätte nie gedacht … ich weiß nicht… ich sagte, was ich sagen mußte, Dirk. Bretan Braith hätte dich getötet.«
»Vielleicht wäre das besser gewesen«, antwortete er.
Nicht verbittert, sondern in belustigtem, leicht zerstreut wirkendem Tonfall. »Du hast ihn also niemals verlassen wollen?«
»Ich weiß nicht. Woher soll ich wissen, was ich wollte?
Ich habe es wirklich versucht, Dirk, ehrlich. Allerdings konnte ich selbst nie ganz daran glauben. Das habe ich dir auch gesagt. Ich war aufrichtig. Wir sind nicht mehr auf Avalen, und wir haben uns verändert. Ich bin nicht deine Jenny. Das war ich nie, und jetzt bin ich es weniger denn je.« »Ja«, sagte er und nickte. »Ich erinnere mich, wie du den Steuerknüppel beim Fliegen umkrallt hattest!
Dein Gesicht. Deine Augen. Du hast Jadeaugen, Gwen.
Jadeaugen und ein Silberlächeln. Du machst mir Angst.«
Er wandte den Blick von ihr ab und starrte auf die Wände. Im Einklang mit der schrillen, dissonanten Musik erzeugten die Lichtspiele chaotische Strukturen.
Seltsamerweise waren die Geister verschwunden. Er hatte sie nur einen Moment aus den Augen gelassen, und schon waren sie alle dahingeschmolzen. Genau wie die alten Träume, dachte er.
»Jadeaugen?« wiederholte Gwen.
»So wie Garse.«
»Garse hat blaue Augen«, sagte sie.
»Trotzdem wie Garse.«
Sie kicherte ein bißchen und stöhnte dann. »Wenn ich lache, tut es weh«, sagte sie. »Aber es ist so lustig. Du vergleichst mich mit Garse. Kein Wunder, daß Jaan …«
»Kehrst du zu ihm zurück?«
»Möglich. Ich weiß es noch nicht. Es würde mir sehr schwerfallen, ihn gerade jetzt zu verlassen. Kannst du dich in meine Lage versetzen? Er hat sich endgültig entschieden. Und zwar in dem Moment, als er den Laser auf Garse richtete. Mit dieser Geste hat er sich gegen seinen teyn, seinen Festhalt, seine ganze Welt gestellt… du weißt das. Wenn ich zu ihm zurückkehre, werde ich nicht wieder seine betheyn sein. Es wird mehr sein als nur Jade-und-Silber.«
Dirk fühlte sich ausgebrannt. Er zuckte die Achseln.
»Und ich?« »Es hätte nicht funktioniert, das weißt du genau. Du mußt es doch gefühlt haben! Du hast mich auch weiterhin Jenny genannt.« Er zog eine Grimasse.
»Stimmt nicht. Vielleicht hatte ich es mir anders überlegt.«
»Ach du.« Sie rieb sich den Kopf. »Nun fühle ich mich ein wenig besser«, sagte sie. »Hast du noch einen Proteinriegel?« Dirk holte einen Riegel aus der Tasche und warf ihn ihr zu. Sie fing ihn mit der Linken aus der Luft, lachte ihn an, riß das Papier ab und biß hinein.
Abrupt stand er auf, rammte die Hände tief in die Jackentaschen und ging zu dem hohen Fenster hinüber.
Auf den Spitzen der knochenweißen Türme lag noch immer ein matter Rotschimmer — vielleicht waren das Höllenauge und seine Begleiter noch nicht gänzlich unter den westlichen Horizont gesunken. Unter ihm aber, in den Straßen der Stadt, machte sich die Nacht breit. Die Kanäle waren nur noch schwarze Bänder, und die Landschaft wurde von der trübpurpurnen Ausstrahlung phosphoreszierenden Mooses betupft. Durch diese flackernde Düsternis hindurch bemerkte Dirk seinen einsamen Kahnfahrer, denselben, den er schon einmal auf diesen schwarzen Wasserwegen erspäht hatte. Er stemmte sich wie immer gegen die Stange und ließ den Strom das weitere tun. Langsam, aber unerbittlich kam er näher. Dirk lächelte. »Sei mir willkommen«, murmelte er. »Sei mir willkommen.« »Dirk?« Gwen war mit dem Essen fertig. Im Halbdunkel schloß sie ihren Anzug. Auf der Wand hinter ihr zuckten die Silhouetten grauweißer Tänzer. Dirk vernahm Trommeln, Geflüster und Versprechungen. Letztere waren Lügen, das wußte er.
»Eine Frage, Gwen«, sagte er schwermütig. Sie starrte ihn an.
»Warum hast du mich zurückgerufen?« fragte er.
»Warum nur? Wenn du so genau wußtest, daß es zwischen uns aus war — warum konntest du mich dann nicht in Ruhe lassen?«
Ihr Gesicht war bleich und ausdruckslos. »Dich zurückgerufen?« »Du weißt doch — das Flüsterjuwel.«
»Ach so. Das ist in Larteyn.«
»Natürlich ist es dort«, sagte er. »In meinem Gepäck.
Du hast es mir geschickt.«
»Nein«, sagte sie erstaunt. »Wie kommst du darauf?«
»Du wolltest mich sehen!«
»Du hast uns vom Schiff aus deine Ankunft gemeldet.
Ich habe nie … Du mußt mir glauben, das war das erste Mal, daß ich von deinem Kommen hörte. Ich wüßte nicht, was ich davon halten sollte. Ich hoffte, du würdest mir einige Erklärungen geben, obwohl ich dich nie dazu drängte.«
Dirk sagte etwas, aber der Turm klagte seinen abgrundtiefen Ton und riß ihm das Wort von den Lippen.
Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich nicht gerufen?«
»Nein.«
»Aber ich habe das Flüsterjuwel bekommen. Auf Braque. Denselben Stein, den der Esper damals bearbeitete. So etwas kann man nicht fälschen. « In diesem Moment fiel ihm noch etwas ein. »Und selbst Arkin sagte …«
»Aha.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ich verstehe zwar nicht, warum — aber er muß es dir geschickt haben.
Seltsam, er war doch mein Freund. Ich brauchte jemand zum Reden … Ich verstehe das nicht.« Sie wimmerte leise.
»Ist etwas mit deinem Kopf?« fragte Dirk schnell.
»Nein«, antwortete sie. »Der ist schon in Ordnung.«
Er sah ihr ins Gesicht. »Arkin hat also das Juwel geschickt?« »Ja, nur er kann es gewesen sein. Er war der einzige, der davon wußte. Wir trafen uns auf Avalen, kurz nachdem du und ich … na, du weißt schon. Es war eine schlimme Zeit. Arkin Ruark half mir. Er war dabei als dein Flüsterjuwel ankam — das Flüsterjuwel für Jenny.
Ich weinte und erzählte ihm alles. Wir redeten lange darüber. Sogar später noch blieben wir Freunde, als ich Jaan schon lange kannte. Er war wie ein Bruder!« »Ein Bruder«, wiederholte Dirk. »Warum hat er dann …« »Ich weiß es wirklich nicht.«
Dirk dachte lange nach. »Als wir uns auf dem Raumhafen trafen, Arkin auch dabei. Hast du ihn gebeten mitzukommen? Ich rechnete eigentlich damit, dich allein anzutreffen.«
»Es war seine Idee«, sagte sie. »Na ja, ich sagte ihm, ich sei nervös, weil ich dich nach so langer Zeit wiedersehen würde. Er … er machte den Vorschlag mitzukommen und mir moralische Unterstützung zu bieten, weißt du. Nach allem, was ich ihm auf Avalon erzählt hatte.« »Und an dem Tag, als ihr beide in die Wildnis aufgebrochen seid — du weißt schon, als ich zuerst mit Garse und dann mit Bretan Schwierigkeiten bekam —, was lief da ab?«