»Arkin sagte etwas von einer Wanderung der Panzerkäfer. Es war nichts ungeheuer Wichtiges, aber wir wollten nachsehen. Also flogen wir ab.« »Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich glaubte, Jaan und Garse hätten dich geschlagen und hielten dich unter Verschluß. In der Nacht zuvor sagtest du …«
»Ich weiß, aber Ruark versicherte mir, er würde dich informieren.« »Statt dessen überzeugte er mich davon, daß es besser wäre, mich aus dem Staub zu machen«, sagte Dirk. »Und dir, nehme ich an, erzählte er, du müßtest, um mich zu überzeugen …« Sie nickte.
Er wandte sich dem Fenster zu. Der letzte Lichtschein war von den Turmspitzen verschwunden. Über ihm funkelte eine Handvoll Sterne. Dirk zählte sie. Zwölf. Ein glattes Dutzend. Er fragte sich, ob einige davon in Wirklichkeit nicht Galaxien am anderen Ufer des Großen Schwarzen Meeres waren. »Gwen«, begann er. »Jaan ist heute morgen aufgebrochen. Mit dem Gleiter von hier bis Larteyn und zurück — wie lange dauert das?«
Als sie nicht antwortete, wandte er sich ihr zu.
Die Wände waren über und über mit Phantomen bedeckt, und Gwen zitterte in ihrem Licht.
»Langsam müßte er doch wohl zurück sein, oder nicht?« Sie nickte und legte sich wieder auf die pastellfarbene Matratze zurück.
Die Sirenenstadt sang ihr Wiegenlied, ihre Hymne auf den letzten, ewigen Schlaf.
11
Dirk durchquerte das Zimmer.
Das Lasergewehr lehnte an der Wand. Er hob es hoch und wunderte sich wieder über die ölige Oberflächenbeschaffenheit des schwarzen, glatten Plastikmaterials. Sein Daumen strich über den Wolfskopf. Er hob die Waffe an die Schulter, legte an und feuerte.
Wenigstens eine volle Sekunde lang hing die Lichtemission in der Luft. Er bewegte das Gewehr leicht hin und her, und der bleistiftdünne Strahl bewegte sich mit. Als er erloschen war und seine Augen sich wieder an die normale Helligkeit gewöhnt hatten, sah er, daß er ein unregelmäßiges Loch ins Fenster gebrannt hatte. Der Wind pfiff laut herein und steuerte eine seltsame Dissonanz zur Musik von Lamiya-Bailis bei. Gwen kletterte schwankend aus ihrem Bett. »Dirk? Was ist los?« Er zuckte unschuldig die Achseln und senkte das Gewehr. »Mann!« rief sie. »Was machst du da?«
»Ich wollte nur herausfinden, ob ich damit umgehen kann«, erklärte er. »Ich … ich gehe ebenfalls.«
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. »Warte, ich suche nur eben meine Stiefel.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du auch?« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich, entstellte sie. »Ich muß nicht beschützt werden, verdammt noch mal.« »Das ist es nicht«, sagte er.
»Falls das so eine idiotische Geste sein soll, um dich in meinen Augen zum Helden aufzuspielen, so wirst du damit kein Glück haben«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften.
Er lächelte. »Das hier, Gwen, ist eine idiotische Geste, um mich in meinen eigenen Augen zum Helden zu machen. Deine Augen … deine Augen sind nicht mehr wichtig.« »Was soll es dann?«
Unentschlossen wog er das Gewehr in den Händen.
»Ich weiß nicht«, gab er zu. »Vielleicht, weil ich Jaan gern habe und in seiner Schuld stehe. Vielleicht will ich ihm zeigen, daß ich für ihn noch nicht abgeschrieben bin, obwohl ich davonlief, als er mich zum keth gemacht hatte.«
»Dirk«, begann sie. Eine Handbewegung brachte sie zum Verstummen. »Ich weiß … aber das ist noch nicht alles. Vielleicht will ich nur zu Ruark. Vielleicht ist es auch deshalb, weil es in Kryne Lamiya mehr Selbstmörder gab als in jeder anderen Stadt, und ich einer davon bin. Aus dem Genannten kannst du dir selbst ein Motiv wählen, Gwen.« Die Spur eines Lächelns hellte sein Gesicht auf. »Man sieht nur zwölf Sterne am Himmel, möglicherweise ist das der Grund. Es spielt überhaupt keine Rolle, oder?« »Was kannst du schon ausrichten?«
»Wer weiß? Es ist doch ohnehin egal. Oder kümmert es dich, Gwen? Kümmert es dich wirklich?« Er schüttelte den Kopf. Die ruckartige Bewegung ließ ihm die Haare ins Gesicht fallen, so daß er innehalten mußte, um sie sich aus den Augen zu streichen. »Mir ist es gleich, ob es dich kümmert«, sagte er mit Nachdruck. »In Challenge sagtest du direkt oder indirekt, daß ich selbstsüchtig sei.
Nun, vielleicht war ich das. Und vielleicht bin ich es jetzt noch. Dennoch werde ich dir etwas sagen. Was immer ich von jetzt an tun werde, ich werde dabei nicht zuerst an deine süße Umarmung denken, Gwen. Ist das klar?«
Als ein letzter Satz war das ausgezeichnet, aber im Türrahmen wurde er wieder weich, zögerte, wandte sich um. »Bleib hier, Gwen. Bitte, bleib. Du bist noch verletzt. Jaan sagte etwas von einer Höhle, für den Fall, daß du fliehen mußt. Weißt du etwas darüber?« Sie nickte. »Also, wenn du flüchten mußt, dann dorthin.
Sonst bleibst du hier.« Er winkte ihr ein tapsiges Lebewohl mit dem Gewehr, drehte sich um und ging ein bißchen zu schnell fort.
Unten in der Landeschleuse waren die Wände wieder nur Wände — keine Geister, keine Farbspiele, keine Lichter. Im Dunkeln wäre Dirk fast über den gesuchten Gleiter gestolpert. Während seine Augen sich den veränderten Lichtverhältnissen anpaßten, tastete er sich hinein.
Der herrenlose Gleiter war kein Erzeugnis von Hoch Kavalaan. Bei ihm handelte es sich um einen engen Zweisitzer, eine schwarzsilberne Träne aus Kunststoff und Leichtmetall. Das Fahrzeug wies natürlich überhaupt keine Panzerung auf und war nur mit einer Waffe ausgestattet: dem Lasergewehr, das quer über seinem Schoß lag.
Der Gleiter war nur eine Idee lebendiger als der Rest auf Worlorn, aber dieser Funke mehr reichte aus. Als er den Anlasserknopf eindrückte, erwachte der Wagen zum Leben. Die Instrumente erhellten das Kabineninnere mit ihrem schwachen Leuchten. Rasch aß er einen Proteinriegel und studierte die Armaturen. Die Energieanzeige stand niedrig, zu niedrig, aber es mußte reichen. Er würde die Scheinwerfer nicht einschalten, sondern im Sternenlicht fliegen, auf die Gefahr hin, daß er dann kaum etwas sah. Auf die Heizung konnte er ebenfalls verzichten, solange ihn die Lederjacke vor der schneidenden Kälte schützte. Dirk zog schwungvoll die Schiebetür herab, schnallte sich an und schaltete den Antischwerkraftgenerator ein. Der Gleiter hob vom Boden ab. Er schaukelte zwar ein wenig, aber er gewann an Höhe. Er umfaßte den Hebel, drückte ihn nach vorn — und dann befand er sich plötzlich draußen, zwischen Himmel und Erde.
Ein fürchterlicher Schreck durchzuckte ihn. Wenn der Generator nicht stark genug aufgeladen war, würde es überhaupt kein Flug werden, sondern ein taumelnder Sturz, dem moosbedeckten Boden unter ihm entgegen.
Als er die Schleuse passiert hatte, ruckte der Gleiter und sackte mit alarmierender Geschwindigkeit weg. Aber nur für einen Moment, dann stabilisierte sich die Leistungsabgabe des Generators, und Dirk ritt auf den singenden Winden höher. Das einzige, was sich jetzt noch drehte, war sein Magen.
Dirk gewann ständig an Höhe. Er versuchte, den kleinen Gleiter so hoch wie möglich zu fliegen. Vor ihm lag das Bergmassiv, und darüber hieß es hinwegzukommen. Abgesehen davon verspürte er keine große Lust, anderen nächtlichen Fliegern zu begegnen. In großer Höhe, ohne Licht fliegend, konnte er jeden anderen Gleiter unter sich sofort bemerken und hatte dabei gute Chancen, von anderen nicht gesehen zu werden. Er sah sich nicht nach Kryne Lamiya um, denn er fühlte die Stadt hinter sich, fühlte, wie sie ihn trieb, wie sie seine Ängste von ihm wusch. Furcht war ein närrisches Gefühl. Ihm konnte nichts etwas anhaben, der Tod am allerwenigsten. Selbst als die Sirenenstadt mit ihren weißen und grauen Lichtern verschwunden war, blieb die Musik in seinen Ohren. Sie wurde zwar ständig leiser, war aber immer bei ihm und verlor nichts an Eindringlichkeit. Einen Ton, ein dünnes, schwankendes Pfeifen, hörte er länger als alles andere. Dreißig Kilometer von der Stadt entfernt, war es zusammen mit dem tieferen Heulen des Windes immer noch zu vernehmen. Schließlich wurde ihm bewußt, daß dieses Geräusch von seinen eigenen Lippen stammte.