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Pyr zog und zerrte ein paarmal daran. Die dünne Silberkette grub sich schmerzhaft in Dirks Hals, dann brach das Flüsterjuwel aus seiner improvisierten Halterung.

»Nein!« schrie Dirk. Er warf sich plötzlich nach vorn und begann zu kämpfen. Roseph stolperte, mußte seinen Griff um Dirks rechten Arm lockern und ging zu Boden.

Saanel war nicht abzuschütteln. Dirk schlug ihm hart gegen den Hals, direkt unterhalb des fetten Kinns.

Fluchend ließ der dicke Mann los, und Dirk warf sich auf Pyr.

Der hatte jedoch seinen Stock aufgehoben und lächelte.

Mit einem schnellen Schritt war Dirk bei ihm und … hielt inne. Dieses Zögern genügte. Von hinten legte ihm Saanel seinen dicken Arm um den Hals und nahm ihn so fest in den Schwitzkasten, daß ihm die Sinne zu schwinden drohten.

Gelangweilt sah Pyr zu. Er steckte seinen Stock in den Sand und drehte das Flüsterjuwel zwischen Daumen und Zeigefinger. »Spottmenschenschmuck«, stieß er angewidert hervor. Ihm bedeutete er nichts, sein Gehirn war kein Resonanzkörper für die winzigen Espersignale, die der Edelstein ausstrahlte. Vielleicht bemerkte er, wie kalt die kleine Träne in seiner Hand lag, vielleicht auch nicht — aber auf keinen Fall vernahm er das Flüstern. Er rief seinen teyn, der gerade damit beschäftigt war, Sand in das Feuer zu treten. »Hättest du gern ein Geschenk von t’Larien?« Wortlos kam der Mann herüber, nahm das Juwel, musterte es kurz und steckte es dann in seine Jackentasche. Ohne Gefühlsregung wandte er sich ab und umrundete das Lager, wobei er die Handscheinwerfer löschte, die ringförmig im Sand steckten. Als die Lichter ausgingen, sah Dirk, daß es am östlichen Horizont langsam Tag wurde. Pyr zeigte mit dem Stock auf Saanel. »Laß ihn frei«, ordnete er an. Der dicke Mann entließ Dirk aus seinem Würgegriff und trat zurück.

Dirks Hals tat fürchterlich weh, und der trockene Sand unter seinen Füßen war rauh und kalt. Er kam sich entsetzlich schutzlos vor. Ohne das Flüsterjuwel hatte er jetzt Angst. Er sah sich nach Garse Janacek um, aber der Eisenjade befand sich auf der anderen Seite des Lagers und redete hastig auf Lorimaar ein.

»Die Morgendämmerung ist schon heraufgezogen«, sagte Pyr. »Ich kann dich schon jetzt verfolgen, Spottmensch. Lauf!« Dirk warf einen Blick zur Seite.

Roseph sah wütend drein und massierte seine Schulter, als Dirk sich losgerissen hatte, war er hart gefallen.

Saanel lehnte hämisch grinsend am Gleiter. Dirk wich vor ihnen zurück, machte ein paar zögernde Schritte auf den Wald zu. »Komm schon, t’Larien, ich bin sicher, du kannst noch schneller laufen«, rief ihm Pyr zu. »Wenn du schnell genug rennst, bleibst du am Leben. Wir werden auch nur zu Fuß sein, mein teyn, meine Hunde und ich.«

Er zog seine Handfeuerwaffe und warf sie Saanel zu, der sie mit seinen großen, wurstfingerigen Händen fing. »Ich werde keinen Laser tragen, t’Larien«, fuhr Pyr fort. »Es wird eine einfache, saubere Jagd der ältesten Art geben.

Ein Jäger mit Messer und Wurfklinge, eine nackte Beute.

Lauf, t’Larien, lauf!« Sein knochiger, schwarzhaariger Begleiter war herübergekommen, um sich ihm anzuschließen. »Mein teyn«, trug Pyr ihm auf, »binde unsere Hunde los.« Dirk fuhr herum und rannte in Richtung Waldrand davon.

Die Flucht hätte einem Alptraum entsprungen sein können. Er war kaum drei Meter in den Wald eingedrungen, da schlug er sich den Fuß an einem scharfen Stein auf und begann zu humpeln. Aber dieser Stein war nicht der einzige, und alle schienen es ausgerechnet auf seine ungeschützten Füße abgesehen zu haben. Die Stiefel hatten ihm die Jäger abgenommen.

Seine Kleider vermißte er ebenfalls. Im Schutz der Bäume, wo der Wind nicht so eisig pfiff, war es zwar besser, aber er fror immer noch erbärmlich. Eine Zeitlang hatte er Gänsehaut, die dann aber wich. Andere Schmerzen drängten sich in den Vordergrund und ließen die Kälte weniger wichtig erscheinen.

In der Wildnis der Außenwelt war es zu dunkel und zu hell. Zu dunkel, um den Weg zu erkennen. Er stolperte über Wurzeln, schürfte sich Knie und Handflächen auf, trat in Löcher. Aber es war auch zu hell. Die Dämmerung zog zu schnell, viel zu schnell, herauf. Verzweifelt ge-wahrte er das Licht, das die Umrisse der Bäume immer deutlicher hervortreten ließ. Er verlor sein Leuchtfeuer.

Jedesmal, wenn er eine Lichtung erreichte, sah er nach oben, jedesmal, wenn er freie Sicht durch das dichte, überhängende Laubwerk hatte, konnte er es gerade noch ausmachen. Ein einzelner, leuchtendroter Stern: Hoch Kavalaans Sonne, die flammend am Firmament stand.

Garse hatte auf diesen Stern hingewiesen und ihm gesagt, er sollte ihm folgen, falls er von seinem Weg abkäme. Er würde ihn durch die Wälder zu seinem Laser und der Jacke leiten. Aber die Morgendämmerung kam, kam zu schnell. Die Braiths, die sich jetzt Larteyns nannten, hatten die Jagd zu lange hinausgeschoben. Und jedesmal, wenn er hinaufsah und den richtigen Weg herauszufinden versuchte, jedesmal, wenn er nach seinem Leitstern suchte, war dieser schwächer geworden, sah verwaschener aus. Und vor ihm wurde der Wald immer dichter und knorriger. Die Würger formten an manchen Stellen eine undurchdringliche Mauer und zwangen ihn zu Umwegen, aber in allen Richtungen sah es gleich aus, und man konnte sich leicht verlaufen. Das Licht im Osten hatte eine rötliche Färbung angenommen. Dort irgendwo erhob sich Fetter Satan, um seinen Wegweiser aus dem morgendlichen Zwielichthimmel zu waschen. Er versuchte, noch schneller zu laufen.

Er hatte weniger als einen Kilometer zurückzulegen, weniger als einen Kilometer. Aber nackt in einer urwüchsigen Wildnis, den Tod vor Augen, war ein Kilometer eine schrecklich lange Strecke. Er rannte schon zehn Minuten, als er die Braithhunde wie verrückt hinter sich bellen hörte.

Von diesem Zeitpunkt an dachte er weder nach, noch machte er sich Sorgen. Er rannte.

Schwer atmend, blutend, am ganzen Körper zitternd, verletzt, rannte er wie ein Tier in panischem Schrecken.

Der Lauf wurde zu einer zeitlosen Angelegenheit, zu einer endlosen Tortur, einem Fiebertraum, in welchem auf und nieder stampfende Füße, schmerzhafte Empfindungen, abgerissene Eindrücke und das Bellen der stetig näherkommenden Hunde die Hauptrollen spielten. Er rannte und rannte und kam nirgendwo an. Er rannte wie ein Besessener, aber er kam nicht vom Fleck.

Er krachte in eine dichte Feuerrosenhecke, und die rotgespitzten Dornen durchstachen seine Haut an hundert Stellen, aber er schrie nicht, er rannte unablässig. Er erreichte eine Lichtung, die von glattem grauen Schiefergestein bedeckt war und versuchte zu schnell darüber hinwegzusetzen. Er stolperte, fiel und schlug mit dem Kinn voll gegen den harten Untergrund. Sein Mund füllte sich mit Blut — er spuckte es aus. Blut war auch auf dem Felsen, kein Wunder, daß er ausgerutscht war, sein Blut, aus den Wunden an seinen Füßen.

Er kroch über das glatte Gestein, erreichte wieder den Wald und begann erneut unbeherrscht loszurennen, bis er bemerkte, daß er nicht nach seinem Leuchtfeuer Ausschau hielt. Als er es wiedergefunden hatte, glimmte es nur noch schwach und seitlich hinter ihm. Ein kleines Pünktchen am scharlachroten Himmel. Er fuhr herum und lief darauf zu, wieder über die Felsplatte. Auf der anderen Seite stolperte er über Wurzeln, trat auf unsichtbare Zweige, riß, wild mit den Armen um sich schlagend, Buschwerk zur Seite. Dann stieß er mit dem Kopf gegen einen tiefhängenden Ast, so daß er beinahe gestürzt wäre. Benommen rannte er weiter. Auf einem schwarzen, mit rosa Schleim überzogenen und verfault riechenden Moosbett wäre er beinahe ausgeglitten. Im letzten Moment konnte er sich fangen und weiterrennen, immer weiter. Er sah zu seinem Leitstern hoch — und er war verschwunden. Er lief weiter. Es mußte einfach der richtige Weg sein, sonst… Hinter ihm bellten die Hunde.