Sein Stock lag neben ihm. Dirk hob ihn auf, schloß die Hände um den Hartholzknauf am einen Ende, setzte Pyr die kleine Klinge auf die Brust, genau dort, wo das Herz sein mußte, und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Stock, um den anderen zu erlösen. Einen Augenblick lang geriet der schwere Körper des Jägers außer Kontrolle. Wild schlugen Arme und Beine um sich.
Dirk zog die Klinge heraus und stach immer wieder zu, aber Pyr gab keine Ruhe. Nach einiger Zeit kam Dirk zu dem Entschluß, daß die kleine Klinge zu kurz war. Er mußte sie anders anwenden. Am fleischigen Hals des Jägers fand er eine hervorstehende Arterie. Er hielt den Stock ganz kurz hinter der Klinge und setzte diese dort an. Dann drückte er fest zu und zog die Klinge durch die fettige, blasse Haut. Plötzlich gab es entsetzlich viel Blut.
Eine pulsierende Fontäne traf Dirk mitten ins Gesicht, so daß er den Stock losließ und schnell zurückwich. Pyr schlug wieder um sich, und aus seinem Hals, dort, wo Dirk den Schnitt geführt hatte, sprudelte das Blut. Dirk sah zu, aber jeder Spritzer war ein wenig schwächer als der vorherige, und nach einer Weile war von der Fontäne nur noch ein kleines Rinnsal übriggeblieben, das bald darauf ganz zu versiegen schien. Die Asche und der Schmutz tranken viel von dem Blut, aber nicht alles. Was nicht sofort versickerte, bildete eine Pfütze zwischen den beiden Körpern. Dirk war nie bewußt geworden, daß ein Mensch derart viel Blut in sich hatte, daß daraus eine große Pfütze entstehen konnte. Er fühlte sich sehr elend.
Aber wenigstens war Pyr jetzt still, das Gewimmer hatte ein Ende gefunden.
Allein saß er im verwaschenen roten Licht und ruhte sich aus. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt, und er wußte, daß er sich einige Kleidungsstücke von den Leichen nehmen mußte, um sich zu wärmen, brachte aber nicht die Kraft dazu auf. Seine Füße taten wahnsinnig weh, und der Arm war zur doppelten Dicke angeschwollen. Er schlief nicht, konnte sich aber dennoch kaum bei Bewußtsein halten. Er beobachtete den Fetten Satan, wie er am Himmel höher und höher stieg und sich mit seinen schmerzhaft hellen gelben Sonnen dem Zenit näherte. Mehrere Male hörte er den Braithhund heulen, und einmal vernahm er auch den unheimlichen Jagdschrei des Banshee. Er fragte sich, ob dieses Wesen zurückkommen würde, um ihn und die von ihm getöteten Männer zu fressen. Aber der Schrei schien von weither zu kommen, und vielleicht war es auch nur sein Fieber, vielleicht nur der Wind. Als der klebrignasse Film auf seinem Gesicht zu braunem Schorf getrocknet und der kleine Teich aus Blut endlich im Staub verschwunden war, wurde sich Dirk bewußt, daß er sich entweder bewegen oder hier sterben mußte. Lange Zeit überlegte er sich, ob letzteres nicht besser war — irgendwie schien ihm dies kein schlechter Gedanke zu sein —, aber er konnte sich dann doch nicht dazu durchringen. Er dachte an Gwen. So gut es ging, verbiß er den Schmerz, kroch zu Pyrs teyn hinüber und durchsuchte die Taschen des Mannes. In einer fand er das Flüsterjuwel.
Eis in der Faust, Eis im Gedächtnis, Erinnerungen an Versprechen, Lügen, Liebe, Jenny. Meine Guinevere, und er war Lancelot. Er konnte sie nicht enttäuschen. Er durfte nicht. Er drückte die kalte Träne in seiner Faust und nahm das Eis in seine Seele auf. Er zwang sich zum Aufstehen.
Danach ging es leichter. Langsam beraubte er den toten Mann seiner Kleidung und zog sich an, obwohl für ihn alles zu lang war, das Hemd und die Chamäleonstoffjacke große Brandstellen aufwiesen und der Mann seine Hose beschmutzt hatte. Dirk zog der Leiche auch die Stiefel ab, aber sie waren für seine geschwollenen, blutüberkrusteten Füße viel zu eng. Er war gezwungen, Pyrs Stiefel zu benutzen. Pyr hatte riesige Füße.
Sein Lasergewehr und Pyrs Stock als Krücken benutzend, quälte er sich auf den Wald zu. Am Waldrand hielt er inne und drehte sich um. Der Hund, der sich mit seiner Kette verfangen hatte, versuchte wieder, sich loszureißen. Jedesmal, wenn er ruckte, gab der Gleiter ein metallisches Geräusch von sich. Davor lag ein nackter Körper im Schmutz, und nahe am Gleiter schwankte ein silberglänzendes Gebilde im Wind. Pyr konnte er kaum ausmachen. Die Blutflecken hatten dem Anzug des Jägers ein scheckiges Schwarz und Braun und hier und da ein dumpfes Rot verliehen und ihn damit dem Untergrund angepaßt, auf dem er gestorben war. Dirk kümmerte sich nicht um den bellenden Hund und humpelte durch das Würgerdickicht davon.
13
Die Strecke vom Lager der Jäger bis zum abgestürzten Gleiter betrug weniger als einen Kilometer, aber Dirk war sie wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen. Der Rückweg erschien ihm doppelt so lang. Später dämmerte ihm, daß er diesen Weg nicht bei vollem Bewußtsein zurückgelegt hatte. Seine Erinnerung daran war nur noch bruchstückhaft vorhanden: Stolpern, Fallen, eine am Knie aufgerissene Hose. Ein kalter, schnellfließender Bach, an dem er sich das getrocknete Blut aus dem Gesicht wusch, seine Stiefel auszog und die Füße in das eisige Wasser baumeln ließ, bis er sie nicht mehr spürte.
Die angstvolle Klettertour über die Schieferplatte, die ihm auf dem Hinweg fast zum Verhängnis geworden war. Eine dunkle Höhlenöffnung gähnte vor ihm. Sie versprach Schlaf und Ruhe, Verlockungen, denen er aber nicht nachzugeben wagte. Er kam vom Weg ab, verlief sich, suchte die Sonne, fand sie, folgte ihr, kam wieder vom Weg ab. Im Gewirr der Würger flatterten Baumgeister von Ast zu Ast und zirpten mit dünnen Stimmchen. Von den wächsernen Zweigen starrten ihm tote weiße Hüllen entgegen. Weit hinter ihm heulte der Banshee. Der nicht enden wollende Laut jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Furcht und Erschöpfung ließen ihn ein weiteres Mal zu Boden sinken. Der Stock entfiel ihm, rutschte einen steilen Hang hinunter und blieb zwischen dichtem Buschwerk liegen. Nicht suchen, weiter, immer weiter. Einen Fuß vor den anderen setzen, sich nur noch auf den Laser stützen, den unsagbar schmerzenden Füßen Erleichterung verschaffen. Wieder der Banshee. Diesmal sehr nahe, fast über ihm. Suchende Blicke durch den Baldachin aus Ästen, hinauf in den düsteren Himmel. Gehen. Schmerzen. Er erinnerte sich an all diese Dinge und wußte, daß es zwischen ihnen auch noch etwas gegeben hatte, das sie miteinander verband. Vielleicht schlief er im Gehen. Aber er hielt nicht an.
Am späten Nachmittag erst erreichte er die kleine sandige Fläche neben dem grünen See. Die Gleiter waren noch immer dort. Einer lag mit verbogenen Tragflächen im Wasser, die anderen drei standen am Strand.
Einer dieser drei — es war Lorimaars überdachtes Gefährt — wurde von einem Hund bewacht, der mit einer langen schwarzen Kette an der Tür festgebunden war.
Das Tier lag am Boden, aber als Dirk sich näherte, erhob es sich zähnefletschend und knurrte böse. Dirk ertappte sich dabei, wie er mit einem Lachen laut herausplatzte.
Eine verrückte Situation. Da war er nun diesen endlos langen Weg gegangen, nur, um einen Hund vorzufinden, der, an einen Gleiter gekettet, ihn anknurrte. Das hätte er haben können, ohne auch nur einen Schritt zu tun.
Vorsichtig ging er um den Gleiter herum und vermied dabei, sich in die Reichweite des Hundes zu begeben.
Auf der anderen Seite stieg er ein und schloß die Tür hinter sich. Die Luft in der engen, dunklen Kabine war stickig. Nachdem er so lange gefroren hatte, fühlte er sich hier behaglich warm. Er wollte nur noch eines: sich hinlegen und schlafen. Aber er zwang sich, nach dem Fach mit der Notausrüstung zu suchen. Er fand einen Verbandskasten und öffnete ihn. Er war voller Tabletten, Elastikbinden und Sprays. Hätte er Janacek doch nur gebeten, neben dem Laser auch noch den Verbandskasten aus dem Gleiter zu werfen. Dann hätte er nun alles hinter sich gehabt. Ihm war klar, daß er eigentlich hinausgehen mußte, um am Wasser die Wunden gründlich vom Schmutz zu reinigen, aber die gepanzerte Tür schien ihm in diesem Augenblick ein unüberwindliches Hindernis zu sein. Er streifte die Stiefel ab und zog langsam Jacke und Hemd aus. Dann besprühte er die geschwollenen Füße und die Bißstelle am linken Arm mit einem Pulver, das Entzündungen verhindern oder sie bekämpfen sollte. Er war zu müde, um sich durch die ganze Gebrauchsanweisung zu lesen. Dann nahm er zwei Fieberpillen, vier Schmerztöter und zwei Antibiotika-tabletten, die er allesamt trocken hinunterwürgte, denn Wasser war nicht zur Hand.