Danach legte er sich auf den Metallboden zwischen den Sitzen, wo ihn sofort der Schlaf übermannte.
Zitternd, mit trockenem Mund und sehr nervös, erwachte er, das waren die Nachwirkungen der Medikamente.
Aber er konnte wieder klar denken. Seine Stirn war nicht heiß, nur feucht vom Schweiß, und seine Füße taten nicht mehr so schrecklich weh. Die Schwellung am Arm war auch ein wenig zurückgegangen. Dennoch fühlte er sich ein wenig steif an und spannte an der verletzten Stelle. Er zog sein versengtes, blutverkrustetes Hemd wieder an und die Jacke darüber. Dann nahm er den Verbandskasten und ging hinaus.
Die Dämmerung hatte eingesetzt. Im Westen leuchtete der Himmel rot und orange, und zwei der kleinen gelben Sonnen hoben sich deutlich gegen die dünnen Wolken ab. Die Braiths waren nicht zurückgekommen.
Er ging über den Sand auf den See zu. Das Wasser war sehr kalt, aber er gewöhnte sich schnell daran, und es tat sehr gut, wie der Schlamm lindernd zwischen seinen Zehen hindurchquoll. Er zog sich aus und wusch sich.
Dann durchsuchte er den Verbandskasten und tat alles, was er schon viel früher hätte tun sollen. Er säuberte und bandagierte die Füße, bevor er wieder in Pyrs Stiefel schlüpfte, behandelte die schlimmsten seiner Wunden mit Antiinfektionspulver und bestrich die rotunterlaufene Bißstelle am Arm mit einer Salbe, die allergische Reaktionen auf ein Minimum zu reduzieren versprach.
Dann schluckte er eine weitere Handvoll Schmerztöter und spülte sie mit frischem Wasser aus dem See hinunter.
Als er sich wieder anzog, bemerkte er, daß es Nacht geworden war. Der Braithhund lag vor Lorimaars Gleiter und kaute auf einem Stück Fleisch herum. Von seinen Herren war keine Spur zu sehen. Vorsichtig schlug Dirk einen Bogen um das Tier und hielt auf den dritten Gleiter zu, der Pyr und dessen teyn gehört hatte. Ihm war eingefallen, daß er sich an den Vorräten der beiden Toten vergreifen konnte, ohne daß sich das zu seinem Nachteil auswirken würde, die anderen Braiths würden kaum bemerken, wenn etwas fehlte.
Im Inneren fand er einen Ständer mit Waffen vor: vier Lasergewehre, die den vertrauten Wolfskopf aufwiesen, einen Gurt mit Duellschwertern, Messer, eine silbern schimmernde, zweieinhalb Meter lange Wurfklinge neben einem leeren Lagerbock. Und zwei Pistolen, welche die Braiths achtlos auf dem Sitz liegengelassen hatten. Er fand auch ein Fach mit sauberer Kleidung, in die er freudig wechselte. Die neuen Kleider paßten schlecht, dennoch fühlte er sich wie neugeboren in ihnen.
Dann verhalf er sich zu einem Gürtel aus Flechtstahl, einer der Handfeuerwaffen und einem knielangen Mantel aus Chamäleonstoff. Wo der Mantel gehangen hatte, befand sich ein weiteres Lagerfach. Dirk öffnete es. Vier altbekannte Stiefel und Gwens Himmelsflitzer lagen darin. Offensichtlich waren sie von Pyr und seinem teyn als Beutestücke betrachtet worden.
Dirk lächelte. Er hatte nicht beabsichtigt, einen Gleiter zu nehmen. Die Jäger würden ihn damit höchstwahrscheinlich entdecken, besonders dann, wenn er sie am Tage überholte. Die Aussicht auf einen langen Fußmarsch hatte ihm jedoch ebensowenig behagt. Die Flitzer waren die perfekte Antwort. Er verlor keine Zeit und zog sich sofort das größere Paar an. Allerdings mußte er die Stiefel ungeschnürt lassen, nachdem er seine verbundenen Füße hineingezwängt hatte.
Im gleichen Fach befanden sich auch Lebensmitteclass="underline" Proteinriegel, Trockenfleischstreifen, ein kleineres Stück krustigen Käses. Dirk aß den Käse und verstaute den Rest zusammen mit dem zweiten Himmelsflitzer in einem Rucksack. Dann schnallte er sich einen Kompaß um das rechte Handgelenk, streifte den Rucksack über, kletterte hinaus und breitete das silberne Metallgewebe auf dem Sand aus.
Es war stockdunkel. Sein Leitstern aus der vorigen Nacht, Hoch Kavalaans Sonne, leuchtete hellrot und einsam über dem Wald. Dirk sah ihn und freute sich.
Heute Nacht würde er nicht als Wegweiser dienen, Jaan Vikary hatte sich bestimmt in die entgegengesetzte Richtung davongemacht, genau auf Kryne Lamiya zu.
Aber der Stern kam ihm wie ein Freund vor.
Er rüstete sich noch mit einem frisch aufgeladenen Lasergewehr aus, dann bediente er die Handsteuerung und hob vom Boden ab. Hinter ihm erhob sich der Braithhund und fing zu heulen an.
Er flog die ganze Nacht hindurch und hielt sich dabei nur wenige Meter über den Baumwipfeln. Von Zeit zu Zeit zog er seinen Kompaß zu Rate oder hielt nach den Sternen Ausschau. Es gab nur wenig zu sehen. Unter ihm rollten die Wälder endlos dahin, schwarz und verschwiegen. Kein Feuer oder Licht unterbrach ihre Dunkelheit. Manchmal schien es, als würde er stillstehen, und das erinnerte ihn an den letzten Flug auf den Himmelsflitzern durch Worlorns verlassene U-Bahn-Tunnels. Der Wind war sein ständiger Begleiter. Er blies ihm in den Rücken, und Dirk begrüßte das Plus an Geschwindigkeit, das er ihm verlieh. Er ließ den Mantel um seine Beine flattern, und immer wieder nahmen ihm seine langen Haare die Sicht. Unter ihm rauschte der Wind durch den Wald, bog die schwächeren Bäume und schüttelte die größeren mit wütender Hand, so daß sie die letzten Blätter verloren. Nur den Würgern schien er nichts anhaben zu können — und es gab eine Menge Würger. Während er sich durch jenes Astgewirr kämpfte, brachte der Wind hohe, eigentümliche Geräusche hervor.
Die Geräusche paßten gut hierher, es war der Wind von Kryne Lamiya, in den Bergen geboren und kontrolliert von Dunkeldämmerungswettermaschinen, der seinem Geschick entgegeneilte. Voraus warteten die weißen Türme, und die erstarrten Hände schworen ihn auf diese Richtung ein. Es waren noch andere Geräusche zu vernehmen: Bewegungen im Wald unter ihm, das Knurren nächtlicher Jäger, das Rauschen eines schmalen Baches, das Grollen von Stromschnellen. Mehrere Male hörte Dirk das schrille Zirpen der Baumgeister und sah kleine Gebilde pfeilschnell von Ast zu Ast schießen.
Augen und Ohren nahmen seltsamerweise immer mehr wahr. Er überflog einen weiten See und hörte etwas im Wasser plantschen. Dann zerriß hohlklingendes Gebell, weit entfernt am anderen Ufer, die Nacht. Und hinter ihm heulte es wie als Antwort auf die Herausforderung auf.
Der Banshee.
Dieses Geräusch jagte ihm ein Frösteln über den Rücken. Nackt im Wald, war der Banshee für ihn eine schreckliche Drohung gewesen, eine geflügelte Inkarnation des Todes. Jetzt besaß er ein Gewehr und eine Handfeuerwaffe, und die Bedrohung durch den Banshee hatte viel von ihrem Schrecken verloren.
Vielleicht war er sogar ein Verbündeter, dachte er. Schon einmal hatte er ihm das Leben gerettet. Vielleicht tat er es wieder.
Als der Banshee zum zweiten Mal sein grausiges Heulen ertönen ließ — immer noch hinter ihm, aber in größerer Höhe — lächelte Dirk nur. Er stieg höher, um das Tier unter sich zu bringen und flog eine Schleife. Aber es war noch zu weit weg und genauso schwarz wie seine Kleider aus Chamäleonstoff. Er sah nur andeutungsweise eine Bewegung vor den Baumkronen, möglicherweise hatten sich aber auch bloß Zweige im Wind bewegt.
Er behielt die Höhe bei und zog erneut seinen Kompaß zu Rate. Dann änderte er den Kurs und flog wieder auf Kryne Lamiya zu. In dieser Nacht glaubte er noch zweimal den Schrei des Banshee zu vernehmen, aber das Geräusch war sehr schwach.
Der Himmel im Osten begann sich gerade zu erhellen, als er die unstete Musik vernahm, jene verstreuten Fetzen der Verzweiflung, die ihm für seinen Geschmack nur allzu bekannt vorkamen. Dunkeldämmerungsstadt war nicht mehr weit entfernt.