Vikary schluchzte, und sein Körper schüttelte sich.
Aber es kamen keine Tränen, er erlaubte es nicht. »Sehen Sie. Er trug leeres Eisen. Er war auf der Jagd nach mir.
Ich liebte ihn — und er jagte mich!« Der Glühstein war ein harter Klumpen der Unentschlossenheit in Dirks Faust. Er sah wieder auf Garse Janacek hinab, dessen Kleider die Farbe alten Blutes und verfaulenden Mooses angenommen hatten. Dann blickte er Jaan Vikary ins Gesicht, der mit abwesenden Augen und zitternden Schultern kurz vor dem Zusammenbruch stand. Gib einem Ding einen Namen, dachte Dirk, und jetzt mußte er Jaantony Hoch-Eisenjade einen Namen geben.
Er ließ die Faust in die Dunkelheit seiner Tasche gleiten. »Sie mußten es tun«, log er. »Er hätte Sie umgebracht — und anschließend Gwen. Das hat er selbst gesagt. Ich bin froh, daß Arkin Sie noch rechtzeitig warnen konnte.«
Diese Worte schienen Vikary neue Kraft zu geben. Er nickte wortlos. »Als Sie nicht rechtzeitig zurückkehrten«, fuhr Dirk fort, »habe ich mich auf die Suche nach Ihnen gemacht. Gwen war in Sorge. Ich wollte Ihnen helfen.
Garse fing mich ab, entwaffnete mich und lieferte mich an Lorimaar und Pyr aus. Er sagte, ich sei ein Blutgeschenk.« »Ein Blutgeschenk«, wiederholte Vikary.
»Er muß verrückt gewesen sein, t’Larien. In Wirklichkeit war Garse Eisenjade Janacek nicht so. Er war kein Braith, keiner, der Blutgeschenke macht. Das müssen Sie mir glauben.«
»Ja«, sagte Dirk. »Sie haben recht. Er war geistig verwirrt. Das konnte ich daraus ersehen, wie er sprach.
Ja.« Er fühlte sich den Tränen nahe und fragte sich, ob man es ihm ansah. Es war, als hätte er Jaans Ängste und Schmerzen in sich aufgenommen, der Eisenjade schien mit jeder Sekunde stärker und resoluter zu werden, während das Leid sich ungebeten in Dirks Augen schlich.
Vikary sah auf den reglosen Körper, der ausgestreckt unter den Bäumen lag. »Ich würde für ihn klagen, für das, was er war, und für die Dinge, die wir besaßen. Aber es bleibt keine Zeit. Die Jäger sind mit ihren Hunden hinter uns her. Wir müssen weiter.« Er kniete sich einen Augenblick neben Janaceks Leiche und nahm die schlaffe, blutige Hand in die seine. Dann küßte er das zerstörte Gesicht des toten Mannes voll auf die Lippen und streichelte mit der freien Hand das verfilzte Haar.
Aber als er sich wieder erhob, hielt er ein schwarzes Eisenarmband in der Hand. Dirk sah, daß Janaceks Handgelenk nackt war und verspürte wilden Schmerz.
Vikary steckte das leere Eisen in die Tasche. Dirk hielt seine Tränen zurück und schwieg. »Wir müssen gehen.«
»Lassen wir ihn einfach hier liegen?« fragte Dirk.
»Einfach hier liegen?« Vikary runzelte die Stirn. »Ah, jetzt verstehe ich. Die Kavalaren begraben ihre Toten nicht, t’Larien. Traditionsgemäß lassen wir sie in der Wildnis zurück. Und wenn die Tiere sich dann holen, was wir aufgaben, schämen wir uns nicht. Leben sollte Leben nähren. Ist es nicht würdiger, sein Fleisch einem schnellen, ehrenhaften Raubtier zu überlassen als es die Beute ekelhafter Maden und Friedhofswürmer werden zu lassen?«
Also ließen sie ihn dort, wo Vikary den Körper niedergelegt hatte - mitten auf einer offenen Stelle im endlosen gelbbraunen Dickicht —, und machten sich durch das halbdunkle Unterholz auf den Weg nach Kryne Lamiya. Dirk hatte seinen Himmelsflitzer mitgenommen und versuchte, mit Vikary Schritt zu halten. Sie waren noch keine Minute gegangen, als sie an eine hochaufragende Steilwand aus zerklüftetem, schwarzem Fels kamen.
Als Dirk das Hindernis erreichte, war Jaan schon halb auf dem Weg nach oben. Auf seiner Kleidung war Janaceks Blut zu einer braunen Kruste getrocknet. Dirk konnte die Flecken von unten deutlich erkennen. Ansonsten hatten die Kleider des Kavalaren eine schwarze Färbung angenommen. Das Gewehr über den Rücken gehängt, kletterte er Meter um Meter nach oben, wobei sich seine starken Hände von einem sicheren Halt zum anderen tasteten.
Dirk entfaltete das Silbergewebe des Himmelsflitzers und flog zum Rand der Felswand hinauf.
Er hatte sich gerade über die höchsten Äste der Würger erhoben, als er den kurzen Schrei eines Banshee hörte, der gar nicht so weit entfernt war. Er drehte den Kopf und suchte den Himmel nach dem großen Räuber ab.
Von hier oben aus war die kleine Lichtung, auf der sie Janacek zurückgelassen hatten, leicht einzusehen: ein Fleckchen Zwielicht in dunklerer Vegetation. Aber Dirk konnte die Leiche nicht erkennen, die Mitte der Lichtung war eine lebendige Masse kämpfender gelber Körper.
Während er hinsah, flatterten winzige Gestalten von den umliegenden Bäumen hinzu, um sich an dem bevorstehenden Fest zu beteiligen.
Plötzlich war der Banshee da. Aufgetaucht aus dem Nichts, hing er bewegungslos über dem Gewimmel und stieß sein schreckliches, langanhaltendes Heulen aus.
Aber die Baumgeister ließen sich durch diesen Ton nicht von ihrem Geschäft abbringen. Zirpend und mit den Zähnen aufeinander einhackend, fuhren sie mit ihrer verrückten Balgerei fort. Der Banshee fiel hinab. Sein Schatten bedeckte sie. Wellenförmige Bewegungen durchliefen seine Flügel. Er war über ihnen. Und dann war nur noch er allein zu sehen. Die Geister und der Tote waren gemeinsam Opfer seines hungrigen Griffes geworden. Dirk fühlte sich auf seltsame Weise fröhlich.
Aber nur einen Augenblick lang. Während der Banshee unbeweglich über seinen Opfern hockte, ertönte plötzlich ein schrilles Kreischen, und Dirk sah einen kleinen Fleck herabschießen und auf dem Raubtier landen. Ein anderer folgte. Dann noch einer. Dann ein Dutzend auf einmal.
Er blinzelte, und danach schien ihm, als hätte sich die Zahl der Baumgeister verdoppelt. Der Banshee entfaltete erneut seine großen Dreiecksflügel. Sie flatterten schwach und kraftlos, das Tier hob nicht ab. Die Plagegeister waren überall auf dem Körper des Banshee, bissen nach ihm, klammerten sich an ihn, hielten ihn mit ihrem Gewicht am Boden und rissen ihn in Stücke. An die Erde genagelt, konnte er noch nicht einmal einen Schmerzensschrei hervorbringen. Schweigend starb er, die eigene Mahlzeit immer noch unter sich begrabend.
Als Dirk auf dem oberen Rand der Felswand von seinem Himmelsflitzer stieg, war die Lichtung wieder zu jener wogenden Masse aus gelben Körpern geworden, die er zu Anfang gesehen hatte. Kein Zeichen deutete mehr darauf hin, daß dort unten jemals ein Banshee gewesen war. Der Wald lag ganz ruhig. Er wartete, bis Jaan Vikary zu ihm stieß. Gemeinsam nahmen sie ihren wortlosen Marsch wieder auf.
In der Höhle war es kalt, dunkel und unendlich still.
Viele Stunden vergingen unter der Erde, in denen Dirk dem kleinen, schwankenden Licht von Jaan Vikarys Taschenlampe folgte. Das Licht führte ihn durch gewundene, unterirdische Gallerien, durch hallende Gewölbe und beängstigend enge Passagen, die man nur auf Händen und Füßen durchqueren konnte. Sein Universum war der Schein des Lichtes, Dirk verlor jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Er und Jaan hatten einander nichts zu sagen, also schwiegen sie, das Schlurfen ihrer Stiefel über staubigen Fels und die unregelmäßig dröhnenden Echos waren die einzigen Geräusche. Vikary kannte sein Höhlensystem gut.
Niemals kam er vom Weg ab oder zögerte auch nur. Sie hinkten und krochen durch Worlorns geheime Seele.
Und traten an einem Bergabhang inmitten von Würgern ins Freie. Hinaus in eine Nacht des Feuers und der Musik.
Kryne Lamiya brannte. Die Knochentürme kreischten ein verzerrtes Klagelied.
Überall in der bleichen Totenstadt loderten Flammen hoch, leuchtende Wachposten, welche die Straßen auf und ab wanderten. Im Wabern von Licht und Hitze schimmerte die Stadt wie ein seltsames Traumgespinst, sie schien durchsichtig wie eine Seifenblase, unwirklich wie eine Fata Morgana zu sein. Während sie gebannt hinüberstarrten, stürzte eine der schlanken Bogenbrücken ein. Zuerst brach das geschwärzte Mittelstück und fiel in das Flammenmeer, dann folgte der Rest der Steinkonstruktion. Das Feuer verschluckte alles und stob prasselnd, zischend und ungesättigt nur noch höher.