»Richtig«, stimmte er mit finsterem Blick zu. »Hoch-Larteyn. Er dürfte schon mehrere Stunden tot sein, würde ich sagen. Annähernd die Hälfte seiner Brust wurde von Geschossen aus einer Projektilwaffe weggerissen. Seine eigene Handfeuerwaffe steckte im Halfter.«
»Eine Projektilwaffe?« wiederholte Dirk.
Vikary nickte. »Von Bretan Braith Lantry weiß man, daß er eine solche Waffe beim Duell benutzt. Er ist ein berühmter Duellant, aber ich glaube, er hat diese Waffe bisher nur zweimal eingesetzt. Bei seltenen Anlässen, wenn er sich nicht damit zufrieden geben wollte, den Gegner nur zu verwunden. Ein Duellaser ist ein sauberes, präzises Instrument. Das trifft auf diese ominöse Waffe Bretan Braiths nicht zu. Sie verschießt Kugeln, die auch dann zu tödlichen Wunden führen, wenn der Schuß eigentlich nicht tödlich gewesen wäre. Es ist ein brutales Ding für kurze Duelle mit tödlichem Ausgang.«
Gwen starrte auf die Stelle, wo Roseph wie ein Lumpenhaufen lag. Seine Kleider hatten die schmutzige Farbe des staubigen Daches und flatterten von Zeit zu Zeit im Wind. »Das war kein Duell«, sagte sie. »Nein«, gab Vikary zurück.
»Aber warum?« fragte Dirk. »Roseph war für Bretan Braith doch keine Gefahr, oder? Darüber hinaus schreibt der Duellkodex vor … Bretan ist doch noch ein Braith, oder irre ich mich? Also ist er immer noch gebunden. «
»Bretan ist in der Tat noch ein Braith, und das beantwortet Ihre Frage, Dirk t’Larien«, sagte Vikary. »Es handelt sich um kein Duell, sondern wir haben es mit einem Hochkrieg zu tun — Braith gegen Larteyn. Im Hochkrieg gibt es nur wenige Regeln. Jeder männliche Erwachsene des feindlichen Festhalts darf getötet werden, bis ein Friede verkündet wird.«
»Ein Kreuzzug«, meinte Gwen und kicherte. »Das sieht Bretan nicht sehr ähnlich, Jaan.«
»Ja, das klingt viel eher nach dem alten Chell«, gab Vikary zurück. »Ich vermute, daß sein teyn ihm ein Versprechen abnahm, als er im Sterben lag. Falls dies zutrifft, tötet Bretan, um ein Gelöbnis zu erfüllen und nicht einfach nur aus Kummer. Er wird keine Gnade kennen.« Auf dem Rücksitz lehnte sich Arkin Ruark eifrig vor. »Aber das ist ja großartig!« rief er aus. »Ja, hört mir zu, das ist großartig. Gwen, Dirk und Jaan, mein Freund, hört mir zu! Bretan wird sie alle für uns umbringen, nicht wahr? Er wird sie alle töten, jawohl. Er ist der Feind unserer Feinde — das beste, was uns geschehen konnte, stimmt’s?« »Ihr Optimismus ist unangebracht«, sagte Vikary. »Der Hochkrieg zwischen Bretan Braith und den Larteyns macht ihn nicht zu unserem Freund, es sei denn durch Zufall. Blut und Hochbeschwerde lassen sich nicht so einfach aus der Welt schaffen, Arkin.«
»Ja«, stimmte Gwen zu. »Es war nicht Lorimaar, den er in Kryne Lamiya vermutete! Er brannte die Stadt nieder, um uns den Garaus zu machen.«
»Eine Vermutung, reine Spekulation«, murmelte Ruark. »Vielleicht hatte er andere Gründe, persönliche — wer will das wissen? Vielleicht war er verrückt, vor Kummer wahnsinnig geworden, hm?« »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Arkin«, sagte Dirk. »Wir werden Sie draußen absetzen, und wenn Bretan daherkommt, können Sie ihn selbst fragen.«
Der Kimdissi zuckte zurück und sah ihn merkwürdig an. »Nein«, sagte er. »Nein, bei euch ist es sicherer, meine Freunde. Ihr werdet mich beschützen.«
»Wir werden Sie beschützen«, bekräftigte Jaan Vikary.
»Sie haben soviel für uns getan.« Dirk und Gwen tauschten Blicke. Plötzlich startete Vikary den Gleiter.
Sie stiegen hoch und flogen dann zu den düsteren Straßen von Larteyn hinab. »Wohin … ?« fragte Dirk.
»Roseph ist tot«, sagte Vikary. »Aber er war nicht der einzige Jäger. Wir werden eine Volkszählung durchführen, Freunde, und sehen, wer noch da ist.«
Das Gebäude, in welchem Roseph Hoch-Braith Kelcek mit seinem teyn gewohnt hatte, war nicht weit von der Residenz der Eisenjades entfernt. Es war ein großer, quadratischer Bau mit einem Kuppeldach aus Metall und einer Kolonnade, die von schwarzen Eisensäulen gestützt wurde. Sie landeten kurz davor und näherten sich mit zögernden Schritten. An der Vorderfront des Hauses hatte jemand zwei Braithhunde an Säulen gekettet. Beide waren tot. Vikary besah sie sich aus der Nähe. »Ihre Kehlen wurden aus einiger Entfernung von einem Jagdlaser durchschnitten«, berichtete er. »Lautlos und sicher erlegt.« Während Gwen und Dirk das Gebäude durchsuchten, hielt Jaan draußen mit dem Lasergewehr im Anschlag Wache. Ruark wich ihm nicht von der Seite.
Neben zahlreichen leeren Zimmern fanden sie einen kleinen Trophäenraum mit vier Köpfen vor. Drei davon waren alt und vertrocknet, mit gespannter, ledriger Haut, die Gesichtszüge animalisch verzerrt. Der vierte gehörte, wie Gwen feststellte, einem Schwarzweiner Puddingkind. Dem Aussehen nach zu urteilen, war er ganz frisch.
Ein anderer Raum war randvoll mit Miniaturfiguren: Banshees und Wolfsrudel, mit Messer und Schwert kämpfende Männer, Männer im Kampf mit grotesken Monstren. Alle Szenen waren in Eisen, Kupfer oder Bronze gegossen und sauber gearbeitet. »Das hat Roseph selbst gemacht«, sagte Gwen, als Dirk stehenblieb und eine Figurengruppe hochhob, um sie eingehender zu betrachten. Dann drängte sie ihn zum Weitergehen.
Rosephs teyn war beim Essen überrascht worden. Sie fanden ihn im Speisezimmer. Sein Mahl — ein Eintopf aus Fleisch und Gemüse, dazu einige Scheiben Schwarzbrot — war kalt und nur zur Hälfte verzehrt.
Neben dem Teller stand ein Steingutkrug mit braunem Bier. Hinter dem Holztisch lag der Körper des Kavalaren auf einem umgestürzten Stuhl. Die Wand dahinter wies dunkle Flecken auf. Vom Kopf des Mannes war kaum etwas übriggeblieben.
Gwen stand mit nachdenklichem Gesichtsausdruck über ihm. Ihr Gewehr hing nachlässig in der Armbeuge und zeigte zu Boden. Sie hob den Bierkrug und nahm einen kurzen Schluck, bevor sie ihn an Dirk weitergab.
Das Getränk war schal und abgestanden, vom Schaum war nichts mehr zu sehen.
»Was ist mit Lorimaar und Saanel?« fragte Gwen, als sie draußen in der Kolonnade standen.
»Ich glaube nicht, daß sie schon aus dem Wald zurück sind«, antwortete Vikary. »Vielleicht wartet Bretan irgendwo in Larteyn auf sie. Zweifellos hat er Roseph und Chaalyn gestern hereinfliegen sehen. Möglicherweise lauert er hier irgendwo in der Nähe und hofft, seine Feinde bei der Rückkehr in die Stadt einen nach dem anderen abzufangen. Aber ich halte das nicht für wahrscheinlich.« »Warum nicht?« wollte Dirk wissen.
»Denken Sie einmal nach, t’Larien. Im Morgengrauen kamen wir in einem ungepanzerten Gleiter in die Stadt.
Er griff uns nicht an. Entweder hat er geschlafen, oder er ist überhaupt nicht mehr hier.« »Was glauben Sie, wo er sein könnte?«
»Draußen in der Wildnis. Auf der Jagd nach unseren Jägern«, sagte Vikary. »Es gibt nur noch zwei Larteyns, die ihm gegenüberstehen, aber Bretan Braith kann das nicht wissen. Er muß annehmen, daß Pyr, Arris und der alte Raymaar Ein-Hand ebenfalls noch leben. Mit den anderen beiden zusammen ergibt das eine ganz schöne Streitmacht. Ich möchte wetten, daß er hinausgeflogen ist, um sie im Wald zu überraschen, vielleicht auch in der Furcht, daß sie als Gruppe in die Stadt zurückkehren und ihre kethi erschlagen vorfinden könnten. Damit wären ihnen seine Absichten bekannt gewesen.«
»Dann sollten wir uns aus dem Staub machen, bevor er zurückkommt, oder?« warf Arkin Ruark ein.
»Irgendwohin gehen, wo wir vor dem Kavalarwahnsinn sicher sind. Zwölfter Traum, ja, zum Zwölften Traum.
Oder Musquel. Oder Challenge. Egal wohin. Bald wird ein Schiff kommen, und dann sind wir in Sicherheit. Was meinen Sie dazu?« »Ich bin dagegen«, erwiderte Dirk.
»Bretan würde uns finden. Denken Sie nur, auf welch geradezu übernatürliche Weise er Gwen und mich in Challenge aufgespürt hat.« Er sah Ruark durchdringend an. Der Kimdissi hielt seinem Blick bewundernswert stand, das mußte man ihm lassen.