»Wir werden in Larteyn bleiben«, sagte Vikary entschieden. »Bretan Braith ist ganz allein. Wir sind zu viert, wovon drei bewaffnet sind. Wenn wir zusammenbleiben, kann uns nichts geschehen. Wir stellen Wachen auf. Wir werden immer auf der Hut sein.« Gwen nickte und hakte sich bei Jaan unter. »Damit bin ich einverstanden«, sagte sie. »Möglicherweise überlebt Bretan nicht einmal den Kampf mit Lorimaar.«
Der Kavalare war anderer Meinung. »Nein, Gwen«, sagte er. »Bretan Braith wird Lorimaar überleben. Dessen bin ich mir ganz sicher.«
Auf Vikarys Drängen hin durchsuchten sie die ausgedehnten unterirdischen Garagenanlagen, bevor sie sich aus der Nähe von Rosephs Residenz zurückzogen.
Sein Gefühl trog ihn nicht. Da man ihnen den eigenen Gleiter in Challenge gestohlen hatte, war es für Roseph und seinen teyn naheliegend gewesen, sich Pyrs Gefährt zu ihrer Rückkehr von der Jagd auszuleihen. Es stand in der Garage. Jaan eignete es sich sofort an. Kam es an Janaceks wuchtiges, olivgrünes Kriegsrelikt auch in keiner Weise heran, so war es doch erheblich besser als Ruarks kleiner Gleiter.
Danach suchten sie sich ein Quartier. Entlang der Stadtmauer von Larteyn, hoch über der steil abfallenden Felswand, die bis zum Freigelände hinabreichte, ragte eine Reihe von Wachttürmen auf, deren besonders starke Mauern nicht nur Wohnquartiere beherbergten, sondern als oberstes Stockwerk auch einen mit Schießscharten versehenen Ausguckposten auf wiesen. Die Türme waren reich verziert, nicht zuletzt trug jeder einen mächtigen steinernen Wasserspeicher an der Spitze. Diese Schnörkel sollten der Festivalstadt den letzten Kavalarschliff geben. Sie waren sehr leicht zu verteidigen und boten eine ausgezeichnete Sicht über die Stadt. Gwen wählte auf gut Glück einen der Türme aus, und sie zogen ein. Zuvor holten sie aus ihrem früheren Appartement alle wichtigen persönlichen Gegenstände, Nahrungsmittel und die fast vergessenen Ergebnisse der ökologischen Forschungen, die Gwen und Ruark auf Worlorn durchgeführt hatten. Als sie sich in Sicherheit fühlten, richteten sie sich auf das Warten ein.
Wie Dirk später feststellen mußte, war dies das schlimmste, was ihnen widerfahren konnte. Unter dem Druck ihrer Inaktivität begannen sich die Risse zu vertiefen.
Sie entwickelten ein System von sich überlappenden Wachperioden, nach dem zu jeder Zeit zwei von ihnen mit Lasern und Gwens Feldstecher bewaffnet, oben auf dem Turm patroullierten. Larteyn war grau, leer und desolat. Für die Wächter gab es nicht viel zu tun. Sie konnten nur das langsame An- und Abschwellen des Lichts in den Glühsteinstraßen studieren und sich unterhalten. Meistens unterhielten sie sich. Arkin Ruark beteiligte sich an dem Wachplan wie alle anderen. Er akzeptierte sogar das Lasergewehr, das Vikary ihm aufzwang, wenn auch mit einigen Bedenken. Immer wieder wollte er darauf hinweisen, daß er für Gewalttätigkeiten nicht tauge und auf keinen Fall einen Laser abfeuern könnte. Aber er war schließlich damit einverstanden, einen bei sich zu tragen, weil Jaan Vikary ihn darum bat. Seine Beziehungen zu allen anderen hatten sich drastisch verändert. Sooft wie möglich hielt er sich an Jaan, den er als seinen Beschützer erkannte.
Gwen gegenüber war er freundlich. Sie hatte ihn gebeten, ihr wegen Kryne Lamiya zu verzeihen, wo Angst und Schmerz sie zeitweise in einen paranoiden Zustand versetzt hätten. Aber für Ruark war sie nicht mehr die ›süße‹ Gwen, von Tag zu Tag trat die Verbitterung zwischen beiden mehr an die Oberfläche. Dirk gegenüber legte der Kimdissi eine zurückhaltende, argwöhnische Haltung an den Tag. Meistens machte er auf gute Freundschaft, zog sich aber in Formalitäten zurück, wenn klar wurde, daß sich Dirk nicht erwärmen mochte.
Ruarks Aussagen während der ersten gemeinsamen Wache eröffneten Dirk, daß der dickliche Ökologe verzweifelt auf die Randfähre Teric neDahlir, deren Landung in der kommenden Woche erfolgen sollte, wartete. Er schien nichts sehnlicher zu wünschen, als sicher im Versteck zu bleiben und so schnell wie möglich von diesem Planeten zu verschwinden.
Gwen Delvano wartete auf etwas ganz anderes, glaubte Dirk zu wissen. Während Ruark ängstlich den Horizont absuchte, war Gwen voller Erwartungen. Er erinnerte sich der Worte, die sie im Schein des brennenden Kryne Lamiya gesprochen hatte. »Es ist an der Zeit, daß wir zu Jägern werden«, hatte sie gesagt. Sie meinte es noch immer so. Als sie mit Dirk zusammen Wache hielt, nahm sie alle Arbeiten auf sich. Mit unglaublicher Geduld saß sie hinter dem hohen, engen Fenster. Das Fernglas baumelte zwischen ihren Brüsten, und ihre Arme hatte sie auf den Sims gestützt. Sie sprach mit Dirk, ohne ihn je anzusehen, ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein nach draußen gerichtet. Abgesehen von einigen Ausflügen ins Badezimmer, verließ Gwen das Fenster nie. Alle paar Augenblicke hob sie den Feldstecher und beobachtete ein entferntes Gebäude, an dem sie eine Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. Seltener bat sie Dirk, ihre Haare zu kämmen, und er bürstete das lange schwarze Haar, das vom Wind ständig in Unordnung gebracht wurde. Als er sie wieder einmal kämmte, sagte sie: »Ich hoffe, Jaan hat unrecht. Ich würde Lorimaar und seinen teyn viel lieber zurückkehren sehen als Bretan.« Mit der Bemerkung, daß Lorimaar — viel älter und verwundet obendrein — eine geringere Gefahr darstellte als der einäugige Duellant, der ihm nachjagte, hatte Dirk eine Art Einverständnis gemurmelt.
Aber Gwen hatte ihn nur angestarrt. »Nein«, war ihre Antwort, »das ist nicht der Grund.«
Für Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary schien die Warterei am schlimmsten zu sein. Solange er in Bewegung gewesen war und man Entscheidungen von ihm verlangt hatte, war er der alte Jaan Vikary geblieben — stark, aktiv, eine Führerpersönlichkeit. Ohne Aufgabe war er ein anderer Mensch. Er hatte keine Rolle zu spielen — stattdessen jedoch unbegrenzt Zeit zum Brüten.
Das war nicht gut. Obwohl Garse Janacek in jenen letzten Tagen selten erwähnt wurde, war klar, daß das Gespenst seines rotbärtigen teyns Jaan verfolgte. Oft war Vikary schroff, und er begann in dumpfe Schweigeperioden zu verfallen, die manchmal Stunden andauerten.
Hatte er anfangs noch darauf bestanden, daß sie alle gemeinsam innerhalb des Turmes bleiben sollten, war Jaan es nun selbst, der, wenn er keine Wache halten mußte, morgens und abends lange Spaziergänge unternahm. Während seiner Stunden im Turm führte er Gespräche, die fast nur um ein Thema kreisten: seine Kindheit in den Festhalten der Eisenjadeversammlung mit ihren Sagen aus der Geschichte um Märtyrerhelden wie Vikor Hoch-Rotstahl und Aryn Hoch-Glühstein. Von der Zukunft sprach er nie und auch nur selten von der gegenwärtigen Situation. Dirk beobachtete ihn und meinte, den inneren Aufruhr des Mannes fast sehen zu können. Innerhalb weniger Tage hatte Vikary alles verloren: seinen teyn, seine Heimatwelt und sein Volk, selbst den Kodex, von dem sein Leben bestimmt worden war. Er kämpfte dagegen an — er hatte Gwen als teyn genommen und sie mit einer Vollkommenheit und einem totalen Vertrauen akzeptiert, wie er es einzeln früher weder ihr noch Garse entgegenbrachte.
Und Dirk schien es auch, als ob Jaan seinen Kodex zu bewahren suchte und sich an die Bruchstücke der Kavalarehre klammerte, die ihm noch verblieben waren.
Gwen war es, nicht Jaan, die von der Jagd auf die Jäger sprach und von Tieren, die einander töteten, jetzt, nachdem kein Kodex mehr Bestand hatte. Sie drückte sich so aus, als würde sie für ihren teyn und sich gemeinsam sprechen, aber Dirk hatte seine Zweifel daran. Wenn Vikary von den bevorstehenden Kämpfen sprach, schien das immer zu beinhalten, daß er sich mit Bretan Braith duellieren wollte. Auf seinen langen Spaziergängen durch die Stadt übte er sich im Gebrauch von Gewehr und Handfeuerwaffe. »Wenn ich auf Bretan treffe, muß ich gut vorbereitet sein«, pflegte er zu sagen.