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Er war jedoch nicht aus Furcht zurückgeblieben, wenigstens dieses Mal nicht, dachte Dirk. Ruark war von Jaan geweckt worden und hatte sich im Beisein der anderen in seinen feinsten Seidenanzug gekleidet, und ein kleines scharlachrotes Barett aufgesetzt. Aber als Vikary ihm an der Tür ein Gewehr übergab, sah er es nur mit seltsamem Lächeln an und gab es zurück. Dann hatte er gesagt: »Ich habe meinen eigenen Kodex, Jaantony, und den müssen Sie respektieren. Danke schön, aber ich werde lieber hierbleiben.« Diese Erklärung brachte er mit einer gewissen Würde hervor, und unter seinem weißblonden Haar sahen die Augen beinahe fröhlich aus.

Jaan trug ihm auf, weiter vom Turm aus Wache zu halten, und Ruark gab sich damit zufrieden. »Arkin haßt Kavalarwein«, antwortete Gwen mürrisch auf Jaans Vorschlag.

»Das spielt keine Rolle«, entgegnete Jaan. »Dies ist Verbindung von kethi, keine Party. Er sollte mit uns trinken.« Er setzte das Weinglas ab und kletterte leichtfüßig die Leiter zum Ausguck hinauf. Als er einen Augenblick später wieder auftauchte, geschah das auf weniger graziöse Weise. Den letzten Meter ließ er sich einfach fallen. »Ruark wird nicht mit uns trinken«, verkündete er. »Ruark hat sich erhängt.«

An diesem ungewöhnlichen Morgen, dem achten ihrer Wache, war es Dirk, der spazierenging. Er ging jedoch nicht in die Stadt hinab. Statt dessen schlenderte er auf der Stadtmauer entlang. Sie war drei Meter dick und bestand aus schwarzem Basalt, auf dem mächtige Glühsteinplatten ruhten, und so bestand keine Gefahr, daß er hinunterfiel. Dirk war allein auf Wache (Gwen hatte Ruarks Leiche vom Seil geschnitten und danach Jaan zu Bett gebracht), und als die erste der gelben Sonnen aufging und die Feuer der Nacht erloschen, starrte er auf jene Mauern hinaus, den Laser in der Hand, das Fernglas um den Hals. Der Drang war plötzlich über ihn gekommen. Bretan Braith würde nicht zur Stadt zurückkommen, soviel schien sicher zu sein, die Wache war nun eine sinnlose Formalität geworden. Er lehnte das Gewehr neben dem Fenster gegen die Wand, zog sich warm an und ging nach draußen. Sein Weg war lang. In regelmäßigen Abständen erhoben sich andere Wachttürme, die genauso aussahen wie ihr eigener. Er passierte sechs von ihnen und schätzte die Entfernung zwischen den Türmen grob auf dreihundert Meter. Jeder Turm hatte seinen eigenen Wasserspeier, und keiner davon glich dem anderen, wie er erkannte. Diese Wasserspeier waren keine Traditionsfiguren und hatten auch sonst nichts mit Alt-Erde zu tun, sie bildeten die Dämonen aus den Kavalarsagen ab, groteske, mythologisierte Versionen der Dactyloiden, der Hruun und der seelensaugenden githyanki. In gewisser Weise waren sie echt. Irgendwo zwischen den Sternen lebten diese Rassen noch.

Die Sterne. Dirk hielt inne und blickte nach oben. Das Höllenauge war gerade im Begriff, sich über den Horizont zu schieben, die meisten Sterne waren schon verschwunden. Er sah nur einen einzigen, sehr schwachen, eine winzige rote Nadelspitze, die von flockigen grauen Wolken eingerahmt wurde. Während er noch hinsah, verschwand er. Hoch Kavalaans Sonne, dachte er. Garse Janacek hatte ihm diesen Stern gezeigt, sein Leuchtfeuer während der Hetzjagd. Hier draußen gab es viel zu wenig Sterne. Auf solchen Planeten konnte der Mensch nicht leben, auf Welten wie Worlorn, Hoch Kavalaan und Dunkeldämmerung, den Außenwelten. Das Große Schwarze Meer war nur allzu nahe, und Templers Schleier schirmte den größten Teil der Galaxis ab. Der Himmel war öde und leer. An einem Himmel müssen Sterne stehen.

Ein Mensch braucht auch einen Kodex. Einen Freund, einen teyn, einen Anlaß — etwas, das außerhalb von ihm steht.

Dirk ging zum äußeren Rand der Mauer und starrte in die Tiefe. Es wäre ein langer, langer Sturz. Das erste Mal, als er auf einem Himmelsflitzer über die Mauer hinausgesegelt war, hatte ihn dieser Anblick die Balance verlieren lassen. Die Mauer reichte weit hinab, und unter ihr stürzte die felsige Steilwand noch viel tiefer, und ganz tief unten schlängelte sich ein Flüßchen durch grünes Land und Morgennebel. Mit den Händen in den Taschen stand er da und zitterte ein bißchen. Der Wind zerzauste ihm die Haare. Er sah hinab. Dann holte er sein Flüsterjuwel hervor. Wie einen Talismann rieb er es zwischen Daumen und Zeigefinger.

Jenny, dachte er. Wo war sie nur? Selbst das Juwel brachte sie ihm nicht zurück.

Schritte. Ganz in der Nähe. Dann eine Stimme: »Ehre Eurem Festhalt, Ehre Eurem teyn.«

Dirk spielte noch immer mit dem Flüsterjuwel. Neben ihm stand ein alter Mann. So groß wie Jaan und so alt wie der arme tote Chell. Er war kräftig gebaut.

Schlohweißes Haar bedeckte seinen Kopf und ging in einen gleichermaßen zerzausten Bart über, um so eine prächtige Löwenmähne zu bilden. Doch sein Gesicht war faltenreich und müde, als ob er es ein paar Jahrhunderte zu lang getragen hätte. Nur seine Augen machten eine Ausnahme — sie waren von durchdringendem, wahnsinnigen Blau, Augen, wie sie Garse Janacek gehabt hatte, Augen, die unter buschigen Brauen in eisigem Fieber leuchteten. »Ich habe keinen Festhalt, und ich habe auch keinen teyn«, sagte Dirk. »Es tut mir leid«, entschuldigte sich der Mann. »Nicht von diesen Welten, was?« Dirk senkte den Kopf.

Der alte Mann kicherte. »Nun, dann suchen Sie die falsche Stadt heim — Geist.«

»Geist?«

»Ein Festivalgeist«, sagte der alte Mann. »Was könnten Sie sonst sein? Das hier ist Worlorn, und die lebenden Menschen sind längst nach Hause gegangen.« Er trug ein schwarzwollenes Cape mit riesigen Taschen über Kleidung aus verwaschen-blauem Drillich. Direkt unter seinem Bart hing eine schwere Scheibe aus rostfreiem Stahl an einem Lederband. Als er die Hände aus den Taschen seines Capes nahm, sah Dirk, daß einer der Finger fehlte. Er trug keine Armreifen. »Haben Sie keinen teyn?« fragte Dirk.

Der alte Mann grummelte vor sich hin. »Natürlich hatte ich einen teyn, Geist. Ich war Dichter, kein Priester. Was soll diese Frage? Nehmen Sie sich in acht. Ich könnte sie als Beleidigung auffassen.« »Sie tragen kein Eisen-und-Feuer«, verteidigte sich Dirk. »Das ist die Wahrheit, doch was soll’s. Geister brauchen keinen Schmuck. Mein teyn ist seit dreißig Jahren tot und spukt sicherlich irgendwo in einem Festhalt Rotstahls herum. Und ich spuke hier auf Worlorn. Nun, eigentlich nur in Larteyn. Auf einem ganzen Planeten herumzuspuken, ist zu anstrengend.«

»Oh«, bemerkte Dirk lächelnd. »Dann sind Sie also auch ein Geist?« »Nun … ja«, erwiderte der alte Mann.

»Ich stehe hier und rede mit Ihnen, weil ich keine Kette zum Rasseln habe. Was denken Sie, was ich bin?«

»Ich denke«, sagte Dirk, »ich denke, daß Sie sehr gut Kirak Rotstahl Cavis sein könnten.«

»Kirak Rotstahl Cavis«, wiederholte der alte Mann in rauhem Singsang. »Ich kenne ihn. Wenn es je einen Geist gab, dann ist er einer. Sein spezielles Schicksal ist es, der toten Kavalarpoesie nachzujagen. Nachts streift er klagend durch die Gegend und rezitiert Verse aus den Trauergesängen von Jamis-Löwe Taal oder einige der besseren Sonette von Erik Hoch-Eisenjade Devlin. Bei Vollmond singt er braithsche Schlachtgesänge, und manchmal stimmt er das alte Klagelied der Kannibalen aus dem Tiefkohlenhort an. Wie wahr, er ist ein Geist, und ein Mitleid erweckender obendrein. Wenn er eines seiner Opfer besonders quälen will, liest er ein Gedicht aus seiner eigenen Feder vor. Ich versichere Ihnen, wenn Sie einmal Kirak Rotstahl vorlesen gehört haben, werden Sie um Kettengerassel beten.«

»Tatsächlich?« bemerkte Dirk. »Ich verstehe nicht, warum es so geisterhaft ist, ein Dichter zu sein.«