»Kirak Rotstahl schreibt altkavalarische Gedichte«, sagte der Mann mit strafendem Blick. »Das reicht schon aus. Es ist eine sterbende Sprache.
Wer wird also lesen, was er schreibt? In seinem eigenen Festhalt wachsen die Jungen mit Standard, dem Sternengeplapper, heran. Vielleicht übersetzt man sein Werk, aber eigentlich lohnt sich die Mühe kaum, wissen Sie. In der Übersetzung reimt sich nichts, und das Versmaß schleppt sich voran wie ein Spottmensch mit gebrochenem Rückgrat. Nichts davon taugt in der Übersetzung. Die rasselnden Kadenzen Galen Glühsteins, die süßen Hymnen Laaris-Blind Hoch-Kenns, all jene trübseligen kleinen Shanagates, die das Eisen-und-Feuer rühmen, selbst die Lieder der eyn-kethi — das alles zählt kaum als Dichtung. Alles ist tot, jeder einzelne Satz, nur in Kirak Rotstahl lebt es weiter. Ja, der Mann ist ein Geist. Weshalb kam er wohl sonst nach Worlorn? Das ist eine Welt für Geister.« Der alte Mann zog sich am Bart und sah Dirk schelmisch an. »Sie sind der Geist eines Touristen, würde ich sagen. Zweifellos haben Sie sich auf der Suche nach einem Badezimmer verlaufen und wandern seither ohne Ziel herum.«
»Nein«, sagte Dirk, »keineswegs. Ich suchte nach etwas anderem.« Lächelnd zeigte er sein Flüsterjuwel.
Der alte Mann sah es sich genau an. Während der kalte Wind sein Cape zum Flattern brachte, kniff er die harten blauen Augen zusammen. »Was immer es sein mag, wahrscheinlich ist es tot«, sagte er. Tief unten, wo sich das funkelnde Band des Flusses durch das Freigelände wand, erklang ein Laut: das schwache, weit entfernte Heulen eines Banshee. Dirks Kopf fuhr herum, und er versuchte herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. Er sah nichts, nichts — nur sich selbst und den anderen Mann, wie sie auf der Mauer standen, der Wind an ihnen zerrte und das Höllenauge über ihnen am zwielichtigen Himmel stand. Kein Banshee. Die Zeit für Banshees war vorbei. Sie waren alle ausgerottet.
»Tot?« sagte Dirk.
»Worlorn ist voller toter Dinge und voller Geister.« Er murmelte etwas auf altkavalarisch, das Dirk nicht verstand und schickte sich an, langsam fortzugehen.
Dirk sah ihm dabei zu. Er starrte auf den fernen Horizont, den eine Bank blaugrauer Wolken verdeckte.
Irgendwo dort hinten lag der Raumhafen, und — er war sich ganz sicher — Bretan Braith auf der Lauer. »Ach Jenny«, sagte er, zum Flüsterjuwel sprechend. Er holte aus und warf es in die Luft, wie ein Junge einen Stein schleudert, und es flog weit hinaus, bevor es zu fallen begann. Einen Augenblick lang dachte er an Gwen und Jaan und ganz kurz auch an Garse.
Dann wandte er sich wieder dem alten Mann zu und rief der entschwindenden Gestalt nach: »Geist! Warten Sie. Tun Sie mir einen Gefallen. Von Geist zu Geist! Ein Geist dem anderen!« Der alte Mann hielt inne.
Epilog
Der Platz inmitten des Freigeländes war flach und grasbewachsen und nicht weit vom Raumhafen entfernt.
Damals, zu Zeiten des Festivals, wurden hier Wettkämpfe ausgetragen, und Athleten von elf der vierzehn Außenwelten hatten um Kronen aus kristallinem Eisen gestritten.
Dirk und Kirak Rotstahl waren lange vor der abgemachten Zeit am Ort und warteten.
Als die Stunde heranrückte, begann Dirk sich Sorgen zu machen. Das war nicht nötig. Der Gleiter mit der zähnefletschenden Wolfskopf-Verkleidung erschien pünktlich am Himmel. Mit kreischenden Pulstriebwerken flog er einmal in geringer Höhe über sie hinweg, um sicherzugehen, daß beide anwesend waren, und landete dann in geringer Entfernung.
Über das tote, braune Gras kam Bretan Braith auf sie zu, seine schwarzen Stiefel zertrampelten eine Unzahl welker Blumen. Die Abenddämmerung stand kurz bevor.
Sein Auge begann zu glühen. »Dann hat man mir also die Wahrheit gesagt«, meinte Bretan, an Dirk gewandt. Seine krächzende Stimme, dieselbe Stimme, die Dirk so oft in seinen Alpträumen vernommen hatte, eine Stimme, die mehrere Oktaven zu tief und viel zu verzerrt für eine so schlanke und aufrecht gehende Person wie Bretan war, trug einen überraschten Unterton. »Du bist wirklich hier.« In makellos reine, weiße Duellgewänder mit einem purpurnen Wolfskopf über dem Herz gekleidet, stand der Braith einige Meter vor ihnen und betrachtete sie. An seinem Gürtel hingen zwei Feuerwaffen: ein Laser an der linken Seite und rechts eine schwere Maschinenpistole aus blaugrauem Metall. An seinem eisernen Armreif fehlten die Glühsteine. »Wenn ich ehrlich sein soll, so habe ich dem alten Rotstahl nicht geglaubt«, sagte er.
»Aber ich sagte mir, daß eine kurze Überprüfung nicht schaden könne. Hätte es sich als Lüge erwiesen, wäre ich noch rechtzeitig zum Raumhafen zurückgekehrt.« Kirak Rotstahl ließ sich auf die Knie sinken und begann, mit einem unförmigen Stück Kreide ein Quadrat auf das Gras zu zeichnen. »Du glaubst wohl, daß ich dich mit einem Duell ehren werde«, sagte Bretan. »Dazu habe ich keinen Grund.« Ruckartig bewegte er die rechte Hand, und Dirk sah plötzlich in den Lauf einer Maschinenpistole. »Was hält mich davon ab, dich zu töten? Hier und jetzt?« Dirk zuckte die Schultern. »Töte mich, wenn du willst«, sagte er, »aber beantworte mir zuerst einige Fragen.« Bretan starrte ihn schweigend an. »Wenn ich in Challenge zu dir gekommen wäre«, sagte Dirk, »wenn ich, wie du es verlangt hast, in die Kellerräume hinuntergegangen wäre — hättest du dich dann mit mir duelliert? Oder mich als Spottmenschen niedergeschossen ? «
Bretan ließ die Waffe wieder in das Halfter gleiten.
»Ich hätte mich mit dir duelliert. In Larteyn, in Challenge, hier — das ist ganz egal. Ich hätte mich mit dir duelliert. Ich glaube nicht an Spottmenschen, t’Larien.
Nur an Chell, der meinen Bund trug und sich seltsamerweise nicht an meinem Gesicht störte.« »Ich verstehe.«
Kirak Rotstahl war mit dem Todesquadrat halb fertig.
Dirk sah zum Himmel empor und fragte sich, wieviel Zeit ihm noch blieb. »Und noch etwas, Bretan. Woher wußtest du, daß wir uns in Challenge versteckt hielten und nicht in einer x-beliebigen anderen Stadt?« »Arkin Ruark informierte mich in Larteyn. Für eine gewisse Summe war er bereit, euren Aufenthaltsort zu verraten.
Alle Kimdissi sind käuflich. Ihr habt ihm zwar euer Versteck nicht verraten, aber er hatte deinen Mantel mit einem Minisender präpariert. Ich glaube, er benutzt solche Sender bei der Arbeit.«
»Wie hoch war sein Preis?« fragte Dirk. Drei Seiten des Quadrats waren gezogen, weiße Linien im Gras.
»Ich gab meinen Ehrenbund, daß ich Gwen Delvano nichts antun und sie vor den anderen beschützen würde.«
Die letzten Sonnenstrahlen verschwanden , der Nachzügler unter den gelben Sonnen war den anderen hinter die Berge gefolgt. »Nun, t’Larien«, fuhr Bretan fort, »habe ich eine Frage an dich. Warum bist du zu mir gekommen?« Dirk lächelte. »Weil ich dich gern habe, Bretan Braith. Du hast doch Kryne Lamiya niedergebrannt oder nicht?«
»In Wirklichkeit hoffte ich, dich mitzuverbrennen«, sagte Bretan, »genau wie Jaantony Hoch-Eisenjade, den Bundlosen. Lebt er noch?« Diese Frage beantwortete Dirk nicht.
Kirak Rotstahl war mit dem Quadrat fertig. Er erhob sich und klopfte die Kreide von den Händen. Dann brachte er die Klingen zum Vorschein, gerade Säbel aus Kavalarstahl, deren pompöse Knäufe mit Glühsteinen und Jade verziert waren. Bretan wählte einen aus und testete ihn — er fuhr mit hohem Singen durch die Luft —, dann trat er befriedigt in eine Ecke des Quadrats zurück.
Während er wartete, stand er ganz still, einen Augenblick wirkte er fast heiter, eine schlanke, schwarze Gestalt, die anmutig leicht auf ihrem Schwert lehnte. Wie der Kahnfahrer, dachte Dirk, und gegen seinen Willen warf er einen gehetzten Blick auf den Wolfsgleiter, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht in einen flachen Lastkahn verwandelt hatte. Sein Herz klopfte wild. Er verwarf den Gedanken, nahm die andere Klinge und trat auf dieselbe Weise zurück. Kirak Rotstahl lächelte ihm zu. Es wird leicht sein, sagte Dirk zu sich selbst. Er versuchte sich an den Rat zu erinnern, den ihm Garse Janacek vor so langer Zeit gegeben hatte. Nimm einen Schlag entgegen und teile einen aus, das ist alles, sagte er sich. Er hatte fürchterliche Angst.