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Bruno schaute durch die schwarzen Zinnen des Burgturms hinunter. Der Morgen war kalt, und der Wind, der nun schon seit Wochen wieder von Norden herüberwehte, schnitt ihm scharf ins Gesicht. Sein Blick verlor sich in den nahen Bergen, die sich wie dunkle, drohende Wächter vor ihm auftürmten. Irgendwo dahinter, dachte er, lag der große See, der im vergangenen Winter zu einer riesigen Schneefläche gefroren war und auch jetzt wahrscheinlich schon wieder zu Eis erstarrt sein würde. Dann folgten weiter südlich ein paar sanfte Hügel, und dahinter lag die kleine Stadt mit dem Hafen. Der Ritter seufzte. Er fühlte sich gefangen, wie ein Tier im Käfig, obwohl es keine sichtbaren Ketten gab, die ihn fesselten.
Die Luft hatte wieder diese metallische Schwere wie im vergangenen Winter, eine Mischung aus Schnee und Schwefel, die ihm unangenehm in den Kopf stieg und einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterließ. Der kurze Sommer hatte ihm gezeigt, daß über diesem Land eine ähnlich helle Sonne wachte wie über dem goldenen Worms. Bruno sehnte sich nach den Wäldern, seiner Heimat und nach dem Glitzern des Rheines in der Morgensonne. Er schloß für eine Weile die Augen und versuchte es sich vorzustellen. Die silbernen Fluten des Rheins tauchten vor ihm auf, und er dachte an das letzte Mal, als er dort am Ufer gestanden hatte. Es war einige Zeit, nachdem er die tote Geliebte dem Rhein übergeben hatte. Genovefa war ihm erschienen. In ihrem weißen Gewand hatte sie vor ihm gestanden und hatte ihm gesagt, er solle nach Norden reisen. Jetzt war er im Norden. Einen Winter und einen Sommer lang war er bereits hier an einen ritterlichen Schwur gebunden, den er in einem schwachen Augenblick der Hüterin des Feuers gegeben hatte. Er fühlte sich dabei wie ein wildes Tier in der Falle. Was hatte Genovefa damit bezweckt, ihn hierher zu senden?
Er schaute sich um. Immer noch die schwarzen Berge und der Lavaring. Alle Trauer, alle Schmerzen der Vergangenheit waren leichter zu ertragen als dieses Leben in der Fremde. Kein Schwertkampf, keine Dichtkunst, statt dessen Feuer und eine Zauberin, die ihn mit ihrer Liebe verfolgte. Die düstere Aussicht, einen weiteren Winter hinter diesen schwarzen Mauern festzusitzen, erlaubte ihm jedoch wenigstens, über eine Flucht nachzudenken. Er sollte mit Faramund darüber reden, aber dann verwarf er den Gedanken wieder. Es war unmöglich, er konnte nicht fliehen.
In jener Nacht, als Luovana an der Säule zusammenbrach, da hatte er geschworen, ihr Ritter zu sein. Sie hatte damals im Sterben gelegen. Eine fiebrige Krankheit hatte sie plötzlich befallen, und Antana, die Tänzerin, hatte die ganze Nacht bei Luovana im Raum des Lichtes gewacht. Antana war nicht nur eine gute Tänzerin, sondern auch eine kenntnisreiche Heilerin. Am Morgen, als das Fieber gesunken war und sie wußte, daß Luovana überleben würde, hatte sie Bruno gesagt, daß die Hüterin des Feuers ein Kind erwartete. Wie hätte er da an Abreise denken können?
Antana hatte ihm auch gesagt, daß der Adler Luovanas Leben bedrohte, weil sie ein Kind bekam.
Bruno streifte mit der Rechten eine Locke aus seinem Gesicht und schaute hinüber zum Burgweg. Eine graue, schmale Gestalt eilte mit fliegenden Schritten geradewegs auf die steinerne Brücke zu. Voller Erstaunen fragte er sich, wer zu so früher Stunde die Burg verließ, nach dazu ohne Pferd. Der heisere Schrei eines Adlers riß ihn aus seinen Betrachtungen. Der dunkle Greif flog auf die Berge zu und verschwand dann zwischen den schwarzen Felsen. Bruno wandte interessiert seine Aufmerksamkeit wieder auf die Brücke, doch die graue Gestalt war verschwunden. Sie mußte es wirklich sehr eilig gehabt haben, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen.
Sonderbar, dachte Bruno. So nah an der Burg hatte er den Adler noch nie gesehen, und was trieb jemanden dazu, zu Fuß über diese Lavabrücke zu laufen? Seine Neugierde war geweckt. Immerhin hatte Luovana in dieser Nacht das Kind zur Welt gebracht. War der Adler deswegen gekommen?
Bruno lächelte einen Lidschlag lang. Er war nun Vater einer Tochter. Luovana hatte das Mädchen Brunhild genannt. Der Ritter wandte sich von den Zinnen ab und ging zur Treppe. Er würde Faramund suchen und mit ihm in die Berge reiten, um nach dem Rechten zu sehen.
Antana zögerte einen Augenblick und schöpfte Atem. Der Weg hier herauf war ziemlich beschwerlich gewesen, doch Pyros, der Adler, hatte bei Tagesanbruch an ihrem Fenster gesessen und sie mit heiseren Schreien gerufen. Es mußte Lursa sehr schlecht gehen, wenn der Vogel bis hinunter zur Burg flog, um Hilfe zu holen. Antana nahm all ihren Mut zusammen und schob mit der Hand die Decke beiseite, die den Eingang zur Höhle verhängte. Ein beißender Gestank von kalter Asche, Blut und Urin schlug ihr aus dem Inneren entgegen, so daß sie unwillkürlich die Luft anhielt. Sie brauchte eine Weile, bis sie die schattenhaften Umrisse der niedergebrannten Feuerstelle erkannte. Daneben hatte sich etwas bewegt.
»Lursa?« Die Heilerin hatte Mühe, ihrer eigenen Stimme einen festen Klang zu geben, so sehr schnürte ihr der Geruch die Kehle zu. Ein leises Stöhnen war alles, was sie als Antwort erhielt. Sie holte noch einmal tief Luft, bevor sie mit raschen Schritten auf die Frau zuging, die in Decken gehüllt auf dem Boden lag. Antana kniete nieder und befühlte die glühende Stirn der anderen.
Rasch griff sie in ihren Korb und suchte nach einem feuchten Tuch.
»Nein!« Lursa hatte die Augen aufgeschlagen und schob Antanas Hand, die das Tuch hielt, von sich.
»Sei ruhig, es ist nicht das heilige Wasser«, beruhigte Antana sie. Das heilige Wasser aus dem Raum des Lichtes vermochte zwar Luovana zu heilen, aber Lursa hätte es umbringen können.
»Das Kind... du mußt es holen«, flüsterte Lursa. »Es muß leben.«
Antana nickte und zog die Decke von Lursas Leib. Der aufgequollene Leib glänzte feucht vom Fieber und war blutverschmiert. Auf der Brust erkannte Antana eine tiefe dunkle Narbe.
»Du hast es also doch getan«, sagte sie und deckte die andere wieder zu. »Ich habe es vermutet. In jener Nacht, als Luovana beinahe umgekommen wäre. Es war die einzige Erklärung für ihr Dahinsiechen. Du hast ihn zurückgeholt und damit euer beider Leben riskiert. Es ist sein Kind!«
Lursa nickte. »Ja, es ist sein Kind.«
»Ich werde es nicht holen.«
»Du mußt! Ich kann es nicht alleine.« Unter gewaltigen Anstrengungen richtete Lursa sich auf. »Du mußt«, wiederholte sie, »sonst sterbe ich.«
»Du hast Pyros zurückgeholt, um ein Kind zu empfangen, das nichts als Unheil bringen wird. Dieses Kind darf nicht leben.«
»Auch dann nicht, wenn es das Kind deines Bruders ist?« sagte Lursa mit schwacher Stimme.
»Das kann es nicht sein. Ich habe keinen Bruder«, erwiderte Antana und ließ Lursas Hand los. »Meine Mutter starb bei meiner Geburt.«
»Nein, das tat sie nicht.« Lursa schaute ihr tief in die Augen. »Deine Mutter war die Schwester meiner Mutter, und die Gwenyar haben sie mitgenommen, weil sie einen Magier namens Elinor liebte.«
»Du fieberst. Ich weiß, wer Elinor ist. Es ist der dunkle Geist eines Magiers, den die Hohepriesterin der Gwenyar hinter den schwarzen Wasserfall gebannt hat. Wie sollte er mein Vater sein?«
»Deine Mutter liebte ihn. Er wohnte unweit von hier in den Bergen, in einem unterirdischen, schwarzen Palast. Immer wieder verließ deine Mutter trotz aller Verbote die Flammenburg, um zu Elinor zu gehen. Am Tage deiner Geburt kamen die Gwenyar, um dich und deine Mutter zu holen, weil ihr nicht vollends in die Dunkelheit fallen solltet, doch meine Mutter versprach den Gwenyar, für dich zu sorgen. Sie wollte darauf achten, daß du in ihrem Sinne erzogen wurdest. Für dich drohte keine Gefahr, denn Elinor würde nicht nach einem Mädchen verlangen. Er wollte einen Sohn, dem er das Erbe des dunklen Feuers vermachen konnte.« Lursa keuchte und ließ sich wieder in die Decken zurück sinken. »So nahmen die Priesterinnen nur deine Mutter mit und ließen dich bei uns in der Flammenburg zurück.«